Montag, 12. Dezember 2011

Kettenhund

Kettenhund
Eddie war nicht der hellste, weiß Gott.
Mehr als einmal dachte ich,
es wäre das Beste, wenn ihn einfach jemand erschießen würde.
Das ginge schnell, wenn man richtig zielt
und man würde ihm das ganze Gelächter ersparen
und die verbissenen Tränen zuhause,
die er in seine ausgewaschenen Fleece-Pullis weinte.
Doch wer weiß,
vielleicht bastelte er im Stillen selbst an ner Bombe
oder ner riesigen Mausefalle
und das Problem hätte sich von alleine erledigt.
Die Wahrheit ist, dass ich ihn eigentlich mochte,
aber wir waren Kinder,
und mit seiner dicken Hornbrille,
den O-Beinen und diesen miesen knallbunten Pullis,
die seine Mutter ihm jeden Morgen überstülpte…
Naja, so was ist schwierig.

Mein bester Freund damals war Alexei,
Bulgare,
nach eigener Aussage Zigeuner,
mit einem nervösem Zucken im Gesicht,
das einem immer etwas mehr auffiel,
wenn er gerade von seinem Vater verprügelt worden war.
Er hatte sich auf Eddie eingeschossen.
„Komm wir ziehen ihm die Haut ab!“,
sagte er immer,
wie die Indianer in den Western,
die wir uns immer zusammen ansahen.
Aber wann immer man Eddie überhaupt mal auf der Straße sah
hatte er diesen Köter dabei.
Einen Kettenhund,
der ihn zwei- bis dreimal die Woche
durch das Dorf hinter sich herzog.
Ein furchterregendes Vieh,
zitternde Muskeln unter kurzem braunem Fell,
sabbernd und mit einem irren Blick,
so dass sich selbst Alexei auf Abstand hielt.
Wir nannten ihn Killer…
„Wenn mir dieser Spast nur einmal ohne dieses Monster übern Weg läuft,…
ich mach ihn fertig!“.
Ich verstand nicht, was Alexei an ihm gefressen hatte,
aber er war mein einziger Freund
also waren die Fronten geklärt.

Wir hatten den ersten Tag Sommerferien
und ich war unterwegs zum Baggersee,
um mich mit Alexei zum Baden zu treffen.
Er kam zu spät und sah schrecklich aus.
Sein T-Shirt war blutverschmiert
und unter seinem Ärmel war ein Verband zu sehen.
„Jetzt ist er dran.“, sagte er.
Sein Gesicht hörte nicht mehr auf zu zucken,
er starrte aufs Wasser und grinste seltsam.

Auf dem Nachhauseweg kam mir Eddie entgegen.
Ohne Hund.
Er starte beim Laufen unentwegt auf seine Schuhe
und nahm mich zuerst gar nicht wahr.
Ich stellte mich ihm in den Weg.
„Er macht dich alle, nur dass du Bescheid weißt.“
„Dann soll er diesmal besser zielen. Bronco wollte
mich nur beschützen.
Mit Steinen hat er uns beworfen.
Ich hab vor lauter Schreck die Leine fallengelassen.“
„Was?“
„Alexei‘s Vater war bei uns zuhause.
Morgen machen sie ihn tot.“
Er schluchzte und trottete weiter.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen,
eine seltsame Unruhe lag über mir.
Ich ging ans Fenster, schob es auf und schaute mir die Sterne an.
Vollmond.
Etwas stimmte nicht.
Ich zog mich wieder an und schlich mich aus dem Haus.

Das alte Backsteinhaus,
von dem der Putz abbröckelte,
verdeckte fast zu Gänze den Mond.
Auf dem Hof hielten sie ihn in einem rostigen Käfig.
Killer schlief.
Der vage Umriss seines Körpers bewegte sich leicht auf und ab
und nach einiger Überwindung
ging ich langsam auf ihn zu.
Mit einem Satz sprang er auf,
so dass mir das Herz in die Hose rutschte.
Doch zu meiner Überraschung bellte er nicht,
sondern schaute mich nur an.
Ich streckte in Zeitlupe die rechte Hand aus.
Sie zitterte.
Der Kerl schnupperte ein paar Mal
und fing zu an sie abzuschlecken.
Ich musste an Alexei denken und ein Ekel kroch in mir hoch.
So stand ich da,
der Hund sabberte mir die Pfote voll
und ich fragte mich, was zum Teufel ich hier eigentlich machte.
Wie fremdgesteuert griff ich mit der anderen Hand zum Riegel des Käfigs,
öffnete die Tür und ging einen Schritt zur Seite.
Der Kerl war wohl genau so überrascht wie ich.
Er machte zwei oder drei Schritte,
dann drehte er mir den Rücken zu
und verschwand im Gebüsch.

Am nächsten Tag schlief ich bis in den Mittag hinein.
Meine Mutter weckte mich kurz,
Alexei wolle mich abholen.
Ich sagte ihr, dass sie ihn wegschicken sollte und schlief weiter.
Als ich dann irgendwann aufgestanden war
und ins Wohnzimmer herunter kam,
diskutierte sie lebhaft mit meinem Vater.
Eddies Hund war eingeschläfert worden,
sagte sie. Was ein Glück. Bevor er noch jemandem zur Gefahr wird,
sagte sie. Man müsse die Kinder schützen.
Des Nachts sei er sogar noch ausgebüchst,
sagte mein Vater.
Weiß Gott was hätte passieren können.
Was ein Glück, sagte meine Mutter,
dass er von ganz allein
morgens wieder vor der Tür stand.
Der Tierarzt war schließlich auch schon da.
Seltsam nur, dass Alexei vorhin so traurig aus der Wäsche geguckt hatte.

Ich ging in mein Zimmer zurück und setzte mich aufs Bett.
Im Fernsehen kam „Der Schwarze Falke“ mit John Wayne,
einer meiner Lieblingswestern.
Ich deckte mich zu, starrte auf den Bildschirm
und versuchte für einige Minuten die Luft anzuhalten,
bis es nicht mehr ging.
An diesem Tag lernte ich etwas.

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