Montag, 28. Oktober 2013

Frankie

Frank setzte schwere Schritte auf den durchtränkten Asphalt und obwohl es fast aufgehört hatte zu regnen, hielt er den Wettschein in der einen Hand umschlungen, während er mit der anderen die ständig herabrutschende Kapuze seines Mantels aus den Augen schob.
Frank hatte die letzten drei Stunden im Wettbüro verbracht, wie den Tag zuvor und den Tag zuvor. Es müssen etwa ein Dutzend Rennen gewesen sein, und er hatte alle verloren. Das Geld, das dann noch blieb, war für Altbier und Ramazzotti draufgegangen, und als wirklich keins mehr da war, ließ er eine letzte Runde anschreiben und wartete, bis sich der Regen gelegt hatte. Der Wettschein war etwa soviel wert wie der Mundgeruch von Maggie, und wenn er an ihre Lippen dachte und an den ganzen Schwachsinn, den sie jede Minute ihres Lebens von sich ließ, ballte sich seine Faust noch fester in der Seitentasche seines Mantels zusammen. Der Name des Pferdes, auf das der in diesem letzten Rennen gesetzt hatte, war Eberhard. Der Name war an Blödheit nicht zu überbieten und zugleich der Name seines Vater, der vor genau zwanzig Jahren gestorben war. 11. November, und der kleine Frankie entdeckte ihn als erstes, am Strick hängend im hinteren Teil seiner Werkstatt. Dieser feige Hurensohn. Aber nicht einmal heute brachte ihm sein Tod Glück. Frank stellte sich vor, wie der sich da unten im Sarg in sein stinkendes verottetes Fäustchen lachte. Es nieselte noch ein wenig und die Lichter der hektisch vorbeifahrenden Autos brachen sich seltsam an den Tropfen und Schaufenstern und Pfützen. Die Gesichter, die hinter den Scheiben kurz aufblitzten, wirkten alle müde und angespannt. Frank war auch müde und hatte einen ordentlichen Schlag. Er torkelte ein wenig und musste sich konzentrieren, nicht in eine der zahlreichen Pfützen zu treten.
Seit zwei Wochen war er arbeitslos und es hatte seine guten Seiten. Keine Plackerei unter Rückenschmerzen mehr und die ungewaschenen Hackfressen seiner Kollegen musste er auch nicht mehr ertragen. Kein Mr Suhutzu und Mr Schmidt, denn man sprach nur noch englisch in der alten Gießerei. „We are one big family“ wurde ihnen vor der Übernahme gesagt. Dann wurde aussortiert. Frank stand ziemlich schnell auf der Abschussliste, weil er sich nichts gefallen ließ, vor allem nicht von dahergelaufenen Fidschis, die halb so alt waren wie er. Ja, er war eigentlich ganz froh, den Laden los zu sein.
Nach ein paar Tagen zeigten sich jedoch auch die Schattenseiten. Maggie. Warum sollte man nach jahrelanger harter Arbeit nicht mal ausschlafen können? Ein Mann muss sich doch besaufen können, ohne sich ständig zu rechtfertigen. „Nicht vor der Kleinen!“...heulte sie immer gleich. Sollte er jetzt auch noch ihre scheiss Blumen giessen? Was ein Weib. In diesen Momenten konnte er sogar seinen Vater verstehen, das alte Arschloch. Da muss man hart durchgreifen, sonst wird man immer kleiner und kleiner und irgendwann machen sie alles mit dir was sie wollen. Nach etwa einer Woche hatte er sich entschieden, ihr etwas von dieser neuen Stelle im Stahlwerk zu erzählen. Dann hatte er wenigstens tagsüber seine Ruhe. Er verließ um 6 die Wohnung und trieb sich in der Stadt rum, meist in den Bars in Nähe des Bahnhofes, da dort das Bier nicht viel kostete und keiner blöde Fragen stellte. Ab und zu kam es vor, dass er der einzige Kunde war und von seinem Platz an der Theke die Züge heranknattern hören konnte. Dann stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er jetzt einfach seinen Mantel schnappte, zum Bahnsteig hinüberlief und in irgendeinen einstieg. Egal wohin, es musste nur weit weg sein, vielleicht Italien oder so. Er würde sich ne schöne reiche Schnalle anlachen und es sich gutgehen lassen. Man sah ihm seine fast vierzig Jahre zwar an, aber er hatte noch eine ganz gute Figur, von den kleinen Bierbauch abgesehen, und ein gewitztes Mundwerk. Was noch wichtiger war: Frauen mögen Männer, die sagen wo es langgeht. Die signorina würde ihm nicht widerstehen können. Aber Frank war ein guter Mann, und ein guter Mann lässt seine Familie nicht im Stich. Was sollte die Rattenbande nur ohne ihn machen?


Frank war noch etwa zwei Straßenzüge von seiner Wohnung entfernt und schaute beim Laufen auf seine Arbeiterstiefel als er plötzlich eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte.
„Hey!“.
Frank erschrak und schob sich die Kapuze vom Gesicht. Vor ihm stand ein junger Kerl in Lederjacke, vielleicht 20, nicht älter.
„Hey.“, sagte der Kerl noch einmal. „Hast du ne Zigarette?“.
„Ne Zigarette?“, fragte Frank.
„Ja man, biste taub?“
„Was meinste?“
Der Kerl lachte und wechselte das Standbein. Er hatte einen kleinen schwarzen Ziegenbart und dicke Backen. Ein sehr jungenhaftes Gesicht, das lässig Kaugummi kaute und trotzdem etwas sehr Nervöses an sich hatte. Vielleicht wieder einer dieser gottverdammten Junkies, dachte sich Frank.
„Es heißt, „Haben Sie eine Zigarette.“, korrigierte er ihn und betonte dabei jede einzelne Silbe, wie es sein Vater immer getan hatte, wenn er ihm zurechtgewiesen hatte. Der Kerl grinste.
„Was guckste so unverschämt aus der Wäsche? Ich sollte dir die Zähne aus deinem dummen Gesicht schlagen.“
„Schon gut, Alter. Schon gut.“, meinte der Kerl, hob beide Hände und drehte sich herum.
Dieser nichtsnutzige Scheisser, wahrscheinlich noch nie richtig gearbeitet, dachte sich Frank, während ihm der Nieselregen über das Gesicht lief. Er beobachtete ihn wie er langsam davonschlenderte und jede Bewegung machte ihn wütender.
Frank ballte die Faust, die immer noch den Wettschein umklammerte. Dann machte er ein paar Schritte und schlug zu.
Der Kerl stieß einen überraschten Schrei aus, dann knallte er mit dem Kopf an die Häuserwand und ging zu Boden. Frank schlug weiter zu. Immer wieder, bis er sicher war, dass da kein Grinsen mehr in dem jungen Gesicht mehr war. Der Kerl lag regungslos mit zur Seite gekrümmten Körper auf dem Boden und Blut floss ihm aus Stirn und Nase. Frank stand über ihm und sah sich um. Die Strasse war menschenleer, es nieselte noch immer und das einzige Geräusch war sein lautes Schnaufen und das stetige Rauschen der Autos der nahegelegenen Hauptstraße. Er ging in die Knie und durchsuchte seine Taschen. Geldbeutel, Handy, Kondome. Tja, Freundchen, die wirste wohl nicht mehr brauchen, sagte Frank, nahm die paar Scheine aus dem Geldbeutel und steckte sie sich in den Mantel.
Maggie war schon im Bett, als er heimkam. Durch die Schlafzimmertür konnte er ihr Schnarchen hören. Sie schnarchte immer, wenn sie zuviel von ihrem billigen Sekt gesoffen hatte. Frank ging in die Küche und machte die Tür zu. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und trank ein paar große Schlücke, während er den Inhalt der Manteltasche auf der Arbeitsplatte ausbreitete. 45 Euro, der zusammengeknüllte Wettschein und eine Schachtel Pall Mall, in der noch eine einzige Zigarette war. Hätte er die etwa diesem verzogenen Bengel geben sollen? Wohl kaum. Er steckte sie mit der blutigen Hand rechten Hand an, ging zum Fenster und öffnete es. Es gab nur eine handvoll vereinzelte Lichter in den Fenstern des Arbeiterviertels. Ein paar schlaflose arme Schweine, denn das Leben ist selten gut zu denen, die sich bemühen. Frank holte sich den Wettschein und rollte ihn auseinander. Eberhard. Er nahm das Feuerzeug und zündete ihn an einer Ecke an. Während er zusah, wie sich der Schein langsam in Asche zusammenkreuselte, dachte er nach. Das Geld wird er morgen Maggie geben, nicht alles, denn er brauchte ja noch etwas Budget zum Spielen, aber er war stolz auf sich. Jetzt noch ein Fick und der Tag hatte sich gelohnt. Er trank einen letzten großen Schluck aus der Flasche, legte seinen Mantel über den Stuhl beim Fenster und streifte sich die Schuhe ab.


Beim Schlafzimmer der Kleinen blieb Frankie stehen und lauschte an der Tür. Er war sicher, dass sie wach war, er spürte es. Sein Vater hatte ihn jedes mal verprügelt, wenn er nicht nach 10 tief und fest schlief. Was fiel ihr eigentlich ein? Hatte er es ihr nicht 1000 mal gesagt? Er beugte sich, so dass sein Mund direkt vorm Schlüsselloch war, schnaufte laut ein und aus und schaute währenddessen auf seine Armbanduhr. 5 Minuten sollten reichen. Nicht zur Strafe, aber zum Lernen. Schließlich richtige er sich auf, öffnete den Gürtel und ging festen Schrittes zum Ende des Ganges, zu seinem Schlafzimmer, wo Maggie lag und er Mann sein würde. Man hörte, dass draussen der Regen wieder mit voller Wucht loslegte...doch das juckte ihn nicht mehr.