Donnerstag, 10. März 2011

Business As Usual oder Außerdem waren Hunde verboten

Business as Usual

Fingerd liebte den Geruch von Pfannkuchen mit gebratenen Äpfeln, denn er erinnerte ihn an eine längst vergangene Zeit. Ihm gegenüber saß Kalle, obwohl nur er ihn so nannte, für alle anderen war er einfach nur Schlappi, was an seiner lapprigen New York Yankees Mütze lag, die er nie abnahm, höchstens zum Waschen, was nicht allzu oft vorkam. Kalle hatte sich für das französische Frühstück entschieden, außer dem Pfannkuchen lag noch ein Croissant und ein Stück Baguette mit Marmelade auf dem Tisch. Kaffee für die beiden gabs umsonst dazu. Fingerd hätte ihm irgendwo auch ein ordentliches Rumpsteak bezahlt oder ne Portion Wurstsalat, aber Kalle hatte sich auf keinen Vorschlag eingelassen. Er ließ sich Zeit, ganz französisch, und sagte kein Wort. Fingerd nahm einen sparsamen Schluck aus seiner Tasse und beobachtete ihn. An Kalle’s wildem Bart hingen Essensreste und vereinzelte dunkle Klumpen. Das Blut war mittlerweile trocken, aber es konnte gut sein, dass er ihm die Nase gebrochen hatte.
Noch gut zehn Minuten hatten sie, dann würden die ersten Gäste kommen und Gabi wäre ihren Job los, wenn sie immer noch hier säßen. Fingerd sah an Kalle’s Schulter vorbei an die Theke, hinter der Gabi herumwerkelte, irgendwelches Zeug, wahrscheinlich Besteck, aus Schubladen holte oder die Kasse suchte. Er legte den liebsten Blick auf, den er zu bieten hatte und rief zu ihr hinüber:
„Gabi, meinste ich könnt mal auf Toilette gehen? Wirklich nur ganz kurz.“
„Ungern, Gerd. Sei mir nicht böse…“
„Ach quatsch. Kein Problem. Wir beeilen uns.“ Er lächelte sie an und winkte beiläufig ab. Dann umfasste er wieder mit beiden Händen die wärmende Tasse vor ihm und beobachtete den wohlriechenden Dampf, während er Kalle mit offenem Mund schmatzen hörte. Er war mittlerweile Ablehnungen wirklich aller Art gewohnt, doch bei Gabi versetzte es ihm immer wieder einen Stich ins Herz. Aber es war in Ordnung. Gabi war ein guter Mensch und eine tolle Frau. Es war die beste, die er je hatte. Aber das war lange her. Zwei Jahre waren sie ein Paar gewesen, damals, als er noch auf die Schule ging und vom großen Leben träumte, wie man so schön sagt. Gabis Eltern starben kurz nach ihrer Geburt bei einem Autounfall, den sie als einzige überlebte. Sie wuchs bei ihrem Onkel auf, einem aufbrausenden, cholerischen Trinker, der sie nicht leiden konnte und sie das spüren ließ. Fingerd dachte oft an das kleine süße, aufmüpfige Ding, dem er eines Tages in der Grünen Au, dem Tanzlokal des Dorfes, aus Versehen seinen Drink über die Bluse leerte. Ja, sie hatten die wahnsinnigsten Nächte, vollkommen entfacht an der Energie des anderen. Sie hatten das Leben und es war ehrlich, kompromisslos und bereit. Aber sie waren auch so jung. Es gab damals einige Mädchen, die gerne das Bett mit ihm geteilt hätten. Aber jeder, wirklich jeder war verrückt nach ihr. In dieser einen Nacht, sie feierte ihren 17. Geburtstag, ging es Fingerd so gegen den Strich, dass sie scheinbar überhaupt nicht merkte, wie sich alle ihre so genannten Freunde an sie ranmachten, dass er ne ganze Flasche Wodka leerte, ihr die große Szene machte und dann wutentbrannt nach Hause torkelte. Am nächsten Tag beichtete sie ihm, diesen einen Typ geküsst zu haben, spät in der Nacht, als Fingerd schon längst im berauschtesten Schlaf der Welt lag. Nur ein kurzer Kuss, sagte sie ihm unter Tränen, sie war so wütend und traurig über ihren Streit gewesen aber liebte ihn über alles. Doch Fingerd Stolz war zu groß, obwohl er ihr eigentlich glaubte. Er packte seine Sachen und das wars. So einfach. Wie das Ausdrücken einer Zigarette. Nur ein Kuss…Und heute, was bedeutete ein Kuss heute für ihn? Er hätte sich zusammenreißen sollen, aber für hätte war es für vieles nun zu spät. Zum Beispiel für sein verkorksten Leben und die Duzenden verkorksten Frauen nach ihr. Er war jetzt 55 Jahre alt und wusste er hatte nicht mehr viel zu erwarten. Doch nie beschweren, das war sein Credo. Dass sie ihm, selbst nachdem er vor 8 Jahren auf der Straße gelandet war, immer noch half wo sie konnte, sei es durch ein paar Klamotten, etwas Geld oder dass sie ihn von Zeit zu Zeit hier ins Warme holte, berührte ihn. Manchmal bildete er sich was ein, aber eigentlich war das dann doch nur der Alk.
Es rumpelte an der Tür. Alle drei schraken zusammen. Kalle starrte mit offenem Mund zum Eingang, der halbe Pfannkuchen hing hoffnungslos heraus. Gabi hatte die Tür von innen abgeschlossen. In der plötzlichen Stille war zu hören, wie jemand mit Schlüsseln herumhantierte, was nur eins bedeuten konnte: Schmitz, der Chef des Ladens und erbarmungslose Liebhaber Gabis, der unerwünschte verhängnisvolle Zufall in Person, er war drauf und dran, sich Zugang zu verschaffen, der Dreckskerl. Was hatte er so früh hier verloren? Gabis Miene verriet nichts Gutes. Seltsamerweise fand er nicht gleich den richtigen Schlüssel, jetzt fluchte er (er war es tatsächlich) und verging sich weiter erfolglos an der Tür. Doch auf einmal schwang sie auf und knallte an den Schirmständer. Es machte einen riesen Bums, dann stand er im Türrahmen. Gabi ließ das Besteck fallen, das sie gerade in der Hand hatte und sprang nach vorne, um ihn abzufangen. Doch Schmitz hatte die beiden bereits gesehen, schob Gabi zur Seite und stampfte mit großen Schritten auf sie zu.
„Was isn das hier? Schmeckts den Herren?!“ Er lallte ein wenig.
„Schatz, bitte…“, Gabi fasste ihm von hinten an die Schulter. Er drehte sich in einer Bewegung um und verpasste ihr die Rückseite seiner Hand. Sie schrie auf und stolperte nach hinten. In Fingerd kochte der Hass auf. Reflexartig erhob er sich, ballte die Fäuste und blickte ihm direkt in die Augen.
„Und jetzt alter Mann? Willste mir eine verpassen? Nur zu! Ich reiß euch beide in Stücke. Ihr stinkenden Penner meint, ihr könnts euch hier gut gehen lassen, und ich krieg nichts mit? Das ist das Problem mit euch Gesindel, ihr denkt euch gehört die ganze Welt.“
„Sie haben doch bezahlt…“, sagte Gabi in beschwichtigendem Ton und hielt sich die Backe. Es machte Gerd fertig, sie so zu sehen. Seine Lippen bebten vor Wut.
Doch er würde nicht kämpfen. Selbst wenn der Bastard ihm jetzt eine verpassen würde. Er brauchte keinen Krieg mehr, er musste nichts mehr beweisen, am allerwenigsten seinen Stolz. Auseinandersetzungen wie diese, Kämpfe für die er kein Geld sah, verbrauchten zu viele wertvolle Kalorien, die unausgesprochene Währung der Straße. Ganz davon abgesehen wusste er, dass sein alkoholgeschwächter Körper nicht gerade bis zur Punktewertung durchhalten würde. Lass die Gewinner gewinnen, die Verlierer holt eh der Deibel, auch so ein Credo von ihm... Er lächelte und hob die Hände.
„Bitte tu mir nichts, großer starker Mann! Wäre schade ums Essen, wenn dus mir jetzt rausprügelst…“ Schmitz starrte ihn an. Seine Stirn schlug Falten. War das jetzt ein schlechter Witz? Wollte er sich über ihn lustig machen? Warum hat Gabi, das Miststück, die überhaupt reingelassen? Er war sichtlich überfordert. Allerdings konnte er sich das doch nicht bieten lassen. Er knallte Fingerd eine halbherzige Backpfeife rein und schrie: „Raus…RAUS SAGE ICH!!“ Kalle stand auf und hatte sich noch nicht mal richtig erhoben, als Schmitz ihn am Kragen packte und ihn brutal Richtung Tür stieß. Fingerd ging hastig hinterher.
„Und wehe ich seh einen von euch noch mal hier in der Nähe. Ich schwöre, ich bring euch um!“
Hinter ihnen schlug die Tür zu und der eisige Novemberwind ihnen voll ins Gesicht. Sie zogen sich die alten Mäntel zu. Fingerd warf im Weggehen noch einen kurzen Blick durch das Fenster. Was er da sah, gefiel ihm nicht.
„Fingerd?“ ging Kalle ihn an.
„Halt einfach dein Maul!“
Dann machten sie sich davon.

Die Baustelle, wo mittlerweile die meisten von ihnen lebten, lag etwas außerhalb, bestimmt eine halbe Stunde vom Zentrum entfernt. Das Zentrum selbst war mittlerweile pennerbefreite Zone. Das kleine Örtchen lag in unmittelbarer Nähe zu Ludwigshafen und immer mehr der gutverdienenden Angestellten des dort ansässigen Chemiekonzerns waren in den letzten Jahren zugezogen, so dass ihre Kinder wohlbehütet aufwachsen konnten, nette ruhige Kindergärten besuchen konnten, nette ruhige Schulen und im Alter vielleicht sogar das nette ruhige Altersheim am Wogsee. In den frisch ausgegrabenen Kellern häuften sich Berge von Geld, die nie ausgegeben werden konnten. Dies rief selbstverständlich die besten Ärzte, Juweliere, Uhrmacher und erlesenste Boutiquen auf den Plan. Der Bürgermeister hatte beste Laune und war nur noch damit beschäftigt, sobald er irgendwo auftauchte, bunte Luftballons und Lutscher für die kleinen verwöhnten Racker zu verteilen.
Anfangs war das großartig. Der Bahnhof wurde für Fingerd zur Goldgrube. Er hatte beim alten, ausrangierten Güterbahnhof dahinter sein kleines bescheidenes Lager. Gegen Mittag fischte er die Zeitungen vom Vortag aus den Mülleimern im Stadtpark, verinnerlichte die großen und kleinen Probleme der Welt und sammelte sie fürs Feuer in kalten Nächten. Wenn zwischen fünf und sechs Uhr die Feierabendzüge angerollt kamen, stand er an der Bushaltestelle und unterhielt sich mit den Menschen über dies und das, Weltgeschehen und städtischen Klatsch und alles mit größtem Wortwitz und Charme. Er gab sich Mühe gerade noch schäbig und bedürftig genug auszusehen, jedoch nie zu sehr zu stinken. Fingerd war Geschäftsmann und Schauspieler in einem. Die Leute wollten Geschichten hören und genau die kriegten sie. Er erzählte ihnen die tollsten Märchen, über seine Zeit als Matrose auf einem brasilianischen Kutter und ähnlichen Mist. Bald kannten sie ihn alle, er war eine Institution. Das Kleingeld klingelte nur so, er musste fast nicht einmal danach fragen. Doch dann bekamen die anderen Wind davon. Messi-Sally, mit ihrer hysterischen Lache und die Flasche Doppelkorn schwenkend, Romain der stumme Wallone, der alle zwei Minuten auf die Straße spuckte und die anderen armen Hunde. Harry mit seiner roten Kartoffelnase, der nur Scheisse im Hirn hatte, durchwühlte mit seinen zehn Zentimeter langen Fingernägeln den Müll nach Pfand und fing an, die Leute zu bequatschen, fasste ihnen von hinten an die Schultern, schnorrte Kinder an und begrabschte die Frauen, bis er sich schließlich Schläge einhandelte und im Krankenhaus landete, wo er fast an der Hirnblutung verreckt wäre. Die Leute waren angewidert, genervt oder hatten schlichtweg Angst. Der Bürgermeister wurde nervös und verhängte ein umfassendes Platzverbot, als Folge dessen Fingerd auch seinen Verschlag hinter dem Bahnhof räumen musste. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit ihnen allen abzuziehen. Unten am Fluss fanden sie eine Baugrube, an der seit Jahren nicht mehr gearbeitet wurde, wo sie niemanden belästigten konnten und Ruhe vor den Bullen hatten. Bei einigermaßen trockenem Wetter war es gar nicht mal so schlecht. Durch die Büsche und einige etwas über Rand ragende Bäumchen bot sie etwas Schutz vor dem kalten Wind im Winter. Zu siebt oder acht schliefen sie dort, manche mit Hund, und bauten sich aus Brettern und herumliegenden Plastikplanen eigene kleine Behausungen. Wenn starker Regen kam und alles im Schlamm versank schleppten sie ihren Kram unter die kleine Brücke am Fluss, wo sie einige Tage geduldet wurden, bevor sie wieder zurückkehrten und alles von neuem herrichteten. Fingerd fing wieder an, Pfandflaschen zu sammeln und bei Passanten um ein paar Euro zu betteln. Ab und zu kam die Polizei und schickte ihn wieder weg, aber was sollten sie schon machen. Er kam über die Runden. Aber was die Leute nicht wissen: Das Leben auf der Straße ist teuer. Du kaufst keine billigen Monatspackungen Nudeln, Müsli oder so was. Du bettelst dir ein bisschen Kleingeld zusammen und holst dir davon ne Bratwurst mit Brötchen für 2,50 bei Kurty an der Halle. Und weil du dich beschissen und einsam fühlst noch ein paar Bier und billigen Drehtabak. Die Leute sehen dich an und sie lassen es dich spüren wie sehr sie dich verachten. Du langweilst dich und dein Magen knurrt. Du brauchst den Alkohol so sehr wie du ihn hasst. Du hast eine Lungenentzündung, die du nicht auskurierst, also hustest du von Zeit zu Zeit etwas Blut. Paul, ein junger Ausreißer und der beste Freund, den Fingerd je hatte, starb vor einigen Wochen an Tuberkulose, im Alter von gerade mal 21 Jahren. Keine Seltenheit.
Auf dem Weg zur Grube lag ein kleiner Kiosk, an dem Fingerd eine Flasche billigen Wodka kaufte. Er zählte das Geld, das sie noch hatten. 20 Euro hatten die Kids ihnen dafür bezahlt, dass sie sich gegenseitig auf die Fresse hauten. Einer hatte es sogar mit seinem Handy gefilmt. Wer weiß, vielleicht war er ja schon berühmt und wusste es nicht. Nen Zehner hatte er Gabi fürs Frühstück gegeben, jetzt der Alk für 6,90 Euro. Blieb nicht viel übrig. Er gab Kalle den Rest. Wenn der Kerl nur nicht so gehirnverbrannt wäre. Er wusste nicht genau, ob er schon immer so dumm war, oder ob das erst mit dem Alkohol kam, aber es nervte Fingerd unheimlich. „Mein Körper istn Wunderwerk, es ist echt ein Wunder, wie fit ich noch bin. Ich könnte Jahrhunderte lang saufen!! Ein echtes Wunder…“, lallte er ihn die ganze Strecke über an und fiel dabei alle fünf Meter fast auf die Fresse. Allerdings tat es Fingerd leid, ihm so dermaßen eine reingezwischert zu haben. Dabei gab es klare Anweisungen. Linke Schulter hochziehen hieß Schlag von links, rechte Schulter Schlag von rechts. Er hatte es ihm zehntausend Mal eingebläut…
„Mann, ist doch ok. Habs doch schon verstanden. Oder hältst du mich für nen dämlichen Hundeficker?“
Als Fingerd ihm dann das Zeichen gab, ist der Vollidiot natürlich voll in seine Faust reingelaufen und hat den Ellbogen zu allem Überdruss noch auf die Nase bekommen. Jeder Hund hätte das besser gemacht. Naja, die Kohle hatten sie jedenfalls, und er selbst war bis auf die Backpfeife von Schmitz ganz gut davongekommen. Das war was zählte.
„Du, das tut ganz schön weh.“, meinte Kalle und fummelte an seiner Nase herum.
Fingerd machte die Flasche auf und nahm einen kräftigen Schluck, dann drückte er sie Kalle an die Brust.
„Das hilft.“
„Was machen wir jetzt?“
„Woher zum Teufel soll ich das wissen? Würd sagen wir gehen runter zur Grube. Warten bis alle schlafen und schlitzen ihnen die Hälse auf.“
„Fingerd?“
Fingerd lachte.
„Hey nur Spaß. Lach doch mal ein bisschen. Nimm doch nicht alles immer so ernst.“
„Aber es tut so weh…“
„Ich geb dir gleich noch nen Haken, wenn du nicht die Klappe hälst.“
„Is ja gut.“

In der Grube gab es ziemliches Getümmel. Alle liefen herum wie aufgeschreckte Hühner. Was ist denn hier los, dachte Fingerd. Methusalem, wie ihn alle nannten, da geschätzte 150 Jahre alt, machte großen Wind. Fingerd hasste diesen alten Besserwisser. Er hatte nichts erlebt, hatte einfach nur das Glück guter Veranlagung, deswegen konnte er wahrscheinlich bis zum Anbruch der Endzeit unbehelligt dahinvegetieren, alle mit seinen Weisheiten behelligen und sich alles an den Arsch tragen lassen. Dachte aufgrund seines Alters allen was vormachen zu können. Armselige Kröte. Respekt hat so wenig mit dem Alter zu tun. Sein Freund Paul hatte ihn zehnmal in die Tasche gesteckt, der hatte Mumm, Eier gehabt. Als Fingerd Paul kennen lernte, hing dieser mit den Punks am Rathaus ab, die wie es schien nur aus reiner Provokation auf der Straße lebten, aber schwer in Ordnung waren. Mit ihm machte er seine ersten Fights, bis er irgendwann von der TBC zu geschwächt dafür war. Methusalem hatte gute Verbindungen. Er hätte Paul damals die Medikamente besorgen können, was ihm vielleicht noch ein paar Monate verschafft hätte. Aber es kam ihm nicht einmal in den Sinn, auch nur einen Finger für ihn krumm zu machen. Das einzige was für ihn zählte, war sein eigener verrunzelter Arsch. Doch er hatte es wieder geschafft. Er saß in der Ecke der Grube auf einem gewaltigen Ledersessel, wie der König der Gefallenen. Mit laut krächzender Stimme erzählte er wie er diesen vom Bürgermeister höchstpersönlich geschenkt bekommen hatte. So ein Bullshit. Die anderen waren begeistert. Es wurde spekuliert, wie lange das Leder wohl dem Regen standhalten würde, war es doch so gut verarbeitet. Oh ja…dieser Sessel würde wohl ein Vermögen gekostet haben. Und erst wie schwer er war. Ganz klar, Methusalem hatte es sich verdient, seine Hämorriden darauf breitzudrücken. Er und kein anderer. Fingerd kam die Galle hoch.
„Kalle, wir gehen.“
„Was? Aber du hast du gesagt, wir gehen heim. Und schau mal, was für einen tollen da Sessel Methusalem hergerafft hat.“
„Scheiss auf den Sessel. Und Scheiss auf Methusalem. Wir machen noch einen Fight und schlafen heute nacht im Sheriton. Mit Minibar. Und wenn du Lust hast, lassen wir uns Mädchen kommen, die uns richtig verwöhnen. Du warst doch schon mal mit nem Mädchen zusammen, kannst dich überhaupt noch dran erinnern? Ne süße blonde und ne Brünette, oder so was. Scheiss auf die hier.“
„Hey Fingerd!“ Methusalem hatte ihn entdeckt.
„Schau mal, mein neuer Sessel.“
„Ja, Methusa, der ist toll. Macht dich irgendwie jünger.“
Methusalem lachte dreckig, verschluckte sich und musste husten. Dann ergab er sich wieder der Menge.

Einen Streit vom Zaun zu brechen ist nicht im Allgemeinen nicht schwierig. Das Problem ist nur, die Situation so zu drehen, dass sie nicht mehr gegen einen selbst gerichtet ist, man Kohle abstaubt und wieder weg ist, bevor es eskaliert. Das Kaiserwetter, eine öde Bar im Industriegebiet mit Säbeln und Bildern von Bismarck und ähnlichen Burschen an der Wand, war dafür wie geschaffen. Sie lag direkt an der Autobahnausfahrt und war der einzige Laden, der bis morgens um 7 noch aufhatte und damit der Anlaufpunkt für die ganzen jungen Rassler, die nach der Disco im nahe gelegenen Ludwigshafen noch nicht ins Bett wollten und ihren Frust, keine Frau abgekriegt zu haben, bei erbärmlicher Tanzmusik ertränken wollten. Im Regelfall war sie voll von testosterongeschwängerten Machos Anfang 20, die noch keine Haare am Sack geschweige denn im Gesicht hatten, nicht mal die Hälfte von dem vertrugen was sie tranken und noch mal vorm Heia-gehen ihre Muskeln spielen lassen wollten. Ein Ort der wenigen Schlagworte.
Auf dem Parkplatz stand die Kälte. Fingerd und Kalle drückten sich die Rücken an der Wand, die zum Rewe-Markt gehörte, warm und sahen an parkenden LKW und tiefer gelegten Opels und VWs Richtung Eingang des Kaiserwetters, wo sich eine Gruppe von vielleicht 4 oder 5 Gestalten um einen Aschenbecher herumdrückte. Ihre Stimmen waren laut und ihr Lachen martialisch; vereinzelt glimmten Zigaretten in der Dunkelheit auf. Aus dem Kaiserwetter dröhnte Musik. Perfekt, dachte sich Fingerd und gab Kalle durch einen leichten Stoß des Ellbogens zu verstehen, dass er sich in Bewegung setzen sollte. Kalle lief los, quer über den Parkplatz und direkt auf die Jungs zu. Der Plan war einfach: Kalle sollte nach einer Zigarette fragen und so abstoßend wie möglich dabei sein. Sobald die allgemeine Ausgelassenheit in Genervtheit und Aggression umschlägt, wird Fingerd dazustossen und ihnen anbieten, diesen stinkenden Penner gegen ein Trinkgeld zu erledigen. Als Kalle auf halber Höhe war, torkelnd, was nicht gespielt war, verstummten die Jungs und fixierten ihn. Dann vermischte sich Kalles Gestalt mit dem Haufen im Halbdunkel. Auf einmal schrie einer der Jungs: “Verpiss dich du Penner!“, dann folgten weitere Stimmen und undefinierbare Geräusche.
Fingerd fing an zu singen: “It is the evening of the day..ohhh….I sit and watch the children play”, und lief los. Doch irgendetwas stimmte nicht. Als er nur noch zehn Meter entfernt war, sah er seinen Freund gekrümmt an der Wand lehnen. Kalle hielt sich die Arme schützend vor den Bauch und stöhnte laut. Fingerd ging auf ihn zu, doch einer der Kerle versperrte ihm den Weg. Hinter ihm stand ein Mädchen, das er vorher nicht bemerkt hatte. Es sah verschreckt aus.
„Und was ist mit Dir, du Ratte?“
„Wasn hier los?“, fragte Fingerd ihn und sah besorgt zu Kalle hinüber.
„Ist das dein Kumpel? Der hat meine Freundin angequatscht.“ Fingerd fluchte in sich hinein; Kalle hatte es versaut. Doch die mussten ihm ordentlich eine verpasst haben, er zitterte und rutschte an der Wand entlang, krampfhaft versucht, nicht umzufallen. Fingerd musste sich entscheiden.
„Der Typ? Und ob ich den kenne. Der Wichser hat mich vorhin beklaut.“ Fingerd suchte den Blickkontakt mit Kalle, doch der sah nur auf den Boden und stöhnte erneut.
„Wurde auch mal Zeit, dass der ne Tracht Prügel bekommt.“
Hatten sie’s geschluckt? Fingerd räusperte sich.
„Hey, ich hab nichts mehr zu saufen und es ist so kalt. Könnt Ihr mir bitte ein paar Euro geben? Tut mir Leid mit deiner Freundin, so was macht man nicht. Für nen Zwannie mach ich ihn fertig, da müsst ihr nicht mal nen Finger krumm machen…“. Die Jungs lachten, dann wurden sie ruhig und schauten sich gegenseitig an.
Der Wortführer ging einen Schritt zurück, zückte einen Schein aus seinem Portmonnaire und warf ihn Fingerd vor die Füße.
„Fünfzig Euro, alter Mann. Schlag ihn tot.“ Fingerd schaute ihn erschrocken an. Die Freundin des Jungen griff nach dessen Arm und fuhr ihn an: “Spinnst Du?! Heb sofort dein Geld auf und lass uns reingehen, ich…“
„Er soll ihn totschlagen!“, schrie er sie laut an. Niemand sagte ein Wort. „Du bist so krank!“ schrie das Mädchen ihn an und stampfte wütend in die Kneipe zurück.
„Okay, ich machs...“, sagte Fingerd mit leiser Stimme und steckte den Schein ein. „Aber nicht hier,...lass uns da vor gehen, hinter die LKW.“. Der Typ lachte, ging zu Kalle und schob ihn von der Wand weg. „Und was ist mit Euch, ihr Weicheier? Das wird doch lustig!“
„Ich bin dabei, Timo.“, meinte einer aus der Gruppe. „Na dann los! Und auf euch scheiss ich. Geh doch rein ihr pussies.“ Timo zerrte Kalle weiter in Richtung der LKW, die als dunkle, viereckige Klötze in Mitte des Parkplatzes die bunten Lichtreklamen des dahinter liegenden Supermarktes durchbrachen. Fingerd und der andere Typ gingen hinterher. Kurz hinter dem ersten LKW stieß Timo Kalle auf den Boden. „Leg los, worauf wartest Du? Mach das Schwein fertig.“, Timo lachte. Der andere Typ hantierte mit seinem Handy herum, dann richtete es auf die beiden. Fingerd sah zu Kalle herunter. Er wusste nicht was er machen sollte, es brach ihm das Herz. Dann trat er seinem Freund leicht in die Rippen. Kalle röchelte. „Was ist denn das? Fester!“ Fingerd beugte sich über Kalles Kopf. „Schaffst Du das, Kumpel?“, fragte er ihn flüsternd. Kalle sah ihm in die Augen und nickte unmerklich, dann hustete er und krümmte sich vor Schmerzen. Fingerd ging auf die Knie und schlug ihm in den Bauch, diesmal etwas fester. Dann noch einmal ins Gesicht, wobei er darauf achtete, nicht die verwundete Nase zu erwischen und dann noch einmal in die Rippen. „Alter, Du schlägst ja wie ein Mädchen. Der blutet ja noch nicht einmal.“, sagte Timo genervt. Auf einmal hörte Fingerd, wie er etwas aus seiner Jacke holte und ihm hinwarf. Es war ein Messer. „Auf jetzt, mach mal n bisschen Action. Ich will Blut sehen!!“. Der andere Typ lachte. Fingerd hielt inne und starrte aufs Messer. Timo wurde ungeduldig. Er ging einen Schritt vor, holte mit seinem Bein aus wie ein Kicker beim Elfmeter und trat Kalle mit voller Wucht ins Gesicht. Diesmal hörte Fingerd wirklich etwas brechen; Kalle klappte zusammen, Blut lief ihm aus dem Mund. Es ging ganz schnell, keine zwei Gedanken hatten Platz in diesem Moment: Fingerd sah auf einmal das Messer in seiner Hand liegen und dann im Bein von Timo stecken. Er zog es heraus, wirbelte damit herum wie ein Berserker und schnitt ihm über noch einmal über den Bauch und das Gesicht. Timo schrie überrascht auf und sank auf die Knie. Der andere ließ sein Handy fallen und zog Timo nach hinten. Das Grauen, der Tod, es war ihnen ins Gesicht gemeißelt. Fingerd hielt inne, ungläubig das Messer umklammernd, Blut tropfte von dessen Klinge auf seine müden Finger. „Spürst Dus? Was wisst denn ihr schon von Blut? So fühlt sich das an, genau so.“ Timo schrie lauthals mit weinend wütender Stimme. Er rief nach seinen Freunden, seiner Mama, weiß der Teufel nach wem. Fingerd warf ihnen das Messer vor die Füße, zerrte Kalle an der Schulter auf die Beine und schleppte ihn zügigen Schrittes davon. Erleichtert nahm er wahr, dass sie ihm nicht folgten. Kurz bevor sie um die Ecke des Supermarktes bogen, sah er sich noch einmal kurz um. Aus der Entfernung und im fahlen Licht waren die beiden Jungs zu einem unstetigen Klumpen verschmolzen. Aus dem Kaiserwetter dröhnte dumpf irgendein Schlagerscheiß und niemand nahm Kenntnis.

‚Ich bin der Welt abhanden gekommen’; irgendein menschliches Wesen in einem einsamen Radiosender schickte dieses dunkle mystische Mahlerstück quer durch den Kosmos, aus den staubigen Lautsprechern gegen alle Wände und Fingerd direkt ins Herz. Während er lauschte, achtete er darauf, keine zu langen Trinkpausen zu nehmen um zu klarem Verstand zu kommen. Er fragte sich, warum er nie zuvor klassische Musik gehört hatte. Wie groß muss man sein, um solch ein Stück zu schreiben? Er schloss die Augen und sah jede bedeutend schwere Bewegung des Dirigenten, den Schweiß auf seiner Stirn, den hochkonzentrierten Blick, als ging es um alles. Dann war der Stock kein Stock mehr. Der Dirigent schwenkte ein Messer in den gleichen graziösen Bögen, hoch und runter, peinlich genaue Bewegungen. Blut spritze ihm ins Gesicht, er sah kaum mehr etwas, die Hände zitterten, doch aufgeben war sinnlos. Irgendwer musste das Orchester am Laufen halten, das Ding abliefern bis zum Grand Finale. Eine Stimme riss das Bild auseinander. Fingerd öffnete abrupt die Augen.
„Ich glaube er schläft.“
Messie-Sally hatte Kalle notdürftig versorgt, ne Art Mullbinde um den Kopf und die blutende Nase gewickelt und ihn auf der Couch zugedeckt. Was dort vorher lag, lag jetzt irgendwo anders. Die Wohnung war ein einziger Sauhaufen. Sally war ein Messie wie aus dem Bilderbuch. Doch wenn man etwas brauchte, wie zum Beispiel die Mullbinden, wusste man, sie hatte es auf jeden Fall…man musste nur lange genug suchen. Und hoffen, bei der Suche nicht von irgendeiner Ratte oder schlimmerem angefallen zu werden. Doch Ratten machten Fingerd im Moment keine Sorgen. Wie sollte es jetzt weitergehen, das war die Frage. Gekillt hatte er den Typ nicht und auch Kalle würde über die Runden kommen, mit ner gebrochenen Nase und vielleicht ein paar geprellten Rippen. Höchstwahrscheinlich sind nun die Bullen hinter ihnen her, aber wie gesagt, um Ratten machte er sich keine Sorgen. Fingerd kannte solche Kerle. Die würden nicht locker lassen, bis sie ihre Rache hatten. Doch er fühlte einen gewissen Stolz, ein fast vergessenes Gefühl. Oh, wenn Paul das gesehen hätte, dachte er und trank mit fettem Grinsen das Glas aus.
„Danke noch mal, Sally. Du bist ne miese Hure, aber das vergessen wir dir nicht.“.
Sally lachte, hysterisch wie immer, so dass es ihm fast in den Ohren wehtat. „Halt deine Schnauze und greif mal in den Sack da rein, da müsste noch ne Flasche Wein sein.“
Sie legte die nackten, vom Pilz überzogenen Füße auf die Couch, seitlich an Kalle vorbei, wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. Was ein Glück dass der keine Nase im eigentlichen Sinn mehr hatte, dachte Fingerd, langte in den Krabbelsack und fuchtelte darin herum, bis er tatsächlich irgendetwas flaschenförmiges zu greifen bekam. Kein Wein, sondern Whisky, aber das war ja fast noch besser. Es gibt einige Dinge, die Fingerd staunen ließen: Kunstflieger, Denkmäler für Müllmänner oder auch dass Sally in dem ganzen Chaos noch genau wusste, wo etwas versteckt war. Wie Autisten und die gehörten ja auch dazu. Wahrscheinlicher war aber, dass es hier soviel geklaute und aus dem Mülleimer gefischte Flaschen gab, dass es eher erstaunlich gewesen wäre, wenn er jetzt keine in der Hand halten würde.
Nach dem Vorfall auf dem Parkplatz wollte er Kalle ins Krankenhaus bringen, doch der hatte Angst vor Wartezimmern und Ärzten. Die Grube war ausgeschlossen, denn da würden die Bullen als erstes auf der Matte stehen und auch die Bahnhofsmission war keine Option. Die Leute denken immer: „Niemand muss in Deutschland auf der Straße leben“, doch da ist es in den meisten Fällen allemal besser als in den überfüllten, verlausten Betten dieser Einrichtungen, wo sie einem noch den Alkohol oder das Kiff oder den letzten Krümel H wegnehmen und in ihrem großmütterlichen Ignorantentum denken, am nächsten Tag springt man aus dem Bett, macht ein paar Liegestützen, isst ne Orange und heuert beim nächsten Schuhgeschäft an oder verändert die Welt durch Aquarellmalerei. Außerdem waren Hunde verboten. Okay, ganz so schlimm ist es nicht und Fingerd hatte eine aufrichtige Dankbarkeit all denen gegenüber, die sich ganz selbstlos um Leute wie ihn kümmerten, aber was sie brauchten, war eine pragmatische Lösung, ein Ort an dem sie unter sich waren und nachdenken konnten. Als dann Sally plötzlich um die Ecke bog, den scheppernden Einkaufswagen voller Tüten und Klamotten vor sich her bugsierend und sie mit allerhand Beleidigungen herzlich begrüßte, kam sie wie gerufen. Fingerd konnte sie nicht besonders leiden, sie stank nach alter Lyonerwurst, war laut, dumm und aufdringlich. Früher war sie angeblich Anwältin gewesen und hatte eine ganz normale Familie, was auch immer das heißen mag. Sie hatte zwei erwachsene Kinder, die sich für sie schämten aber die Miete zu ihrem kleinen Loch bezahlten, das sie in regelmäßigen Abständen zwangsentrümpeln ließen. Was mit ihr passiert war, kann keiner sagen. Der Alk, ein gebrochenes Herz, ein Knacks in der Psyche, ein Spinnenbiss...alles und nichts. Umso abstoßender sie wurde, umso größer wurde ihr Schaden. Sie war dauerspitz, machte obszöne Witze und grabschte allen an die Nüsse. Das ging sogar so weit, dass sie einzelnen von ihnen ihre Couch und was zu saufen anbot; für einen Fick als Gegenleistung. Gerade in kalten Winternächten oder wenn der Alkohol knapp war, war auf einmal der ein oder andere nirgends aufzufinden. Dann hieß es: “Ahh, Johnny…ja, der ist mit zu Sally.“. Richtig glücklich sahen die Kerle nicht aus, wenn sie dann mal wieder zurück waren, aber das taten sie ja eh nie. Fingerd mied sie, wo es nur ging, die alte Hexe. Jetzt war er froh hier zu sein.
Auf dem Tisch stand eine kleine Lampe mit einem bunten Schirm mit lauter herabhängenden Franzen, wie man sie aus Chinarestaurants und Kitschläden kannte. Sally spielte an den Franzen herum so dass ihr Gesicht in wechselndes Licht getaucht war. Fingerd öffnete die Flasche und beugte sich über den Tisch um ihr einzuschenken. Als er sich seinem Glas zuwandte hörte das Lichtspiel auf. Sally richtete sich auf und fing an zu lachen.
„Was ist denn so lustig?“, fragte er sie.
„Weißt du, du bist ein ziemlich aufgeblasener Mistkerl. Hältst dich für was besseres und so. Aber ich muss sagen, du hast auch ne ordentliche Portion Mumm in den Knochen.“
„Ach komm hör auf.“
„Oh ist es so stark, dein Egoproblem? Die ganze Zeit am abrotzen wie scheiße dich alle behandeln und dann macht man mal ein Kompliment und es is auch net recht.“
„Du willst mich doch nur anmachen, ich kenn dich doch.“
Er zwinkerte ihr zu. Sie lachte.
„Ja vielleicht, vielleicht auch nicht. Wer weiß? Würd dir aber auch mal gut tun. Ich könnt dir dein letztes bisschen Hirn wegblasen, wenn ich wollte. Oder kriegste keinen mehr hoch, alter Mann?“
„Hey, weißt du mit wem du redest? Bacchus könnte mein Schüler sein. Ich steh nur nicht auf ausrangierte Bräute wie dich.“ Sally griff sich mit beiden Händen an ihre Brüste und hauchte mit rauer Stimme.
„Ohh ja, du kannst sie alle haben. Das macht mich scharf du geiler Bock.“ Dann ließ sie sich nach hinten auf die Lehne der Couch fallen und verfiel in ihr dreckiges Lachen. Fingerd schüttelte den Kopf, musste dann aber mitlachen. Er hob das Glas. „Sally, du bist echt verrückt, das muss man dir lassen. Ich trink auf dich und auf all die Gefallenen im Schützengraben deines verwanzten Bettes! Hey, schau mal, Schlappi da, der könnte sich nicht mal wehren.“
„Ach der…. Der spritzt doch schneller als..“ „Ok, Stopp, ich wills gar nicht wissen.“ Fingerd kippte das halbe Glas und sah ihr in die Augen.
„Was gucksten so dumm?“, fragte sie ihn.
„Hey, haste das ernst gemeint, mit Mumm in den Knochen und so?“
„Ja. Hab ich tatsächlich. Warum?“
„Ach nur so…“ Er schloss kurz die Augen, dann erhob er sich langsam und fischte seine Jacke vom Boden. Er merkte auf einmal wie besoffen er war und kämpfte mit dem Gleichgewicht.
„Madame, es war mir eine Ehre. Pass auf ihn auf.“
„Willst doch nich schon Leine ziehen, oder? Hey komm schon.“
„Ich muss noch was erledigen.“
Er griff sich die Whiskeyflasche und kletterte über den ganzen Ramsch hinweg Richtung Tür.
„Jaja, ist gut…Hau nur ab. Für den Alk schuldest mir was, ich krieg dich schon noch an den Eiern!“ rief sie ihm gespielt beleidigt hinterher. Er drehte sich noch einmal um und lächelte sie an. „Die Hoffnung stirbt zuletzt, Schätzchen. Ach noch was.“ Er kramte die 50 Euro aus seiner Hosentasche und warf sie auf den Tisch. „Gib das morgen Schlappi.“ Und schon war er zurück auf der Straße, aber diesmal mit einem Ziel.
Von Sally bis zur Sonne waren es tagsüber um die 45 Minuten Fußweg, weil die Straßen voller Menschen waren und man bewusst oder unbewusst vielen von ihnen aus dem Weg ging, vor allem den Bullen und anderen Ordnungshütern. Nachts, wenn man genug getankt hatte, dauerte es aus offensichtlichen Gründen normalerweise etwas länger. In dieser Nacht schaffte es Fingerd in knapp einer halben Stunde. Ihm war egal wem er über den Weg laufen würde, selbst wenn es der Bürgermeister höchstpersönlich gewesen wäre, doch der lag eh längst neben seiner dritten Frau und träumte von den Geranien in seinem Vorgarten. Fingerd hatte einen ordentlichen Schlag, doch sein Gang war der eines Tigers. Wenn ihn jemand gesehen hätte, hätte er sich trotz seiner schäbigen Bekleidung gedacht „sieh an, ein Edelmann, unterwegs zu so später Stund...“ oder so was in die Richtung. In seinem Kopf spielte sich ein Gewitter ab; Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart, alles war eine Suppe aus süßen, salzigen und bitteren Erinnerungen, die nur mal anständig rumgerührt werden musste. Das kleine, aufmüpfige Ding, dem er eines Abends sein Getränk über die Bluse schüttete… Er liebte sie. Es hatte nie aufgehört. Und er würde es zu einem guten Ende bringen können. Als er schließlich an der Telefonzelle stand und auf die goldbraune Fassade der Sonne auf der anderen Straßenseite schaute, die sich nun im schwachen Licht der Straßenlaternen mit dem Grau der Straße vermischte, merkte er, dass er am ganzen Körper zitterte. Es war bestimmt 5 Uhr morgens, doch der sternenüberzogene Himmel verriet noch nichts vom anbrechenden Tag. Auch durch das Fenster zu Gabis Schlafzimmer drang kein Licht. Er schaffte es, sich eine Zigarette zu drehen und stellte sich vor, wie sie gerade dalag, die dicke Daunendecke bis über die Nase gezogen, die Beine angewickelt zur Wand gedreht, genau wie damals. Er hatte den ganzen Weg über keinen Schluck von Sallys Plörre getrunken, doch jetzt drehte er den Verschluss auf und zog den kompletten Rest ab, so dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde und er sich an der Telefonzelle abstützen musste. Dann atmete er tief durch, pfefferte die Flasche in die Hecke und lief über die Straße bis er direkt vor der Eingangstür und unter Gabis Fenster stand. „Gabi!“, rief er, zunächst mit unterdrückter Stimme, dann lauter. „Gabi!...GABI!“. Er sah sich um. Nirgends eine Bewegung. Er überlegte kurz, dann suchte er sich ein paar Steinchen vom Boden zusammen und warf sie ans Fenster. Er wartete. Plötzlich ging im Zimmer Licht an und eine Silhouette erschien. Gabi öffnete das Fenster und starrte ungläubig zu ihm hinunter.
„Gerd? Bist du das?“. Verstört sah sie zu ihm herab und rieb sich die Augen.
„Ja Baby, ich bin es.“
„Was soll das? Bist du komplett durchgedreht? Weißt du wie spät es ist?!“
„Es ist nie zu spät…Zieh dich an und komm runter. Ich muss mit dir reden.“
„Ich will nicht reden. Ich will schlafen, zum Teufel man. Ich glaubs ja nicht. Bist du besoffen?“
„Gabi, ich bin wieder da. Ich bin wieder voll da. Dein Pupsi, weißt du noch? Ich bin wieder klar im Kopf. Wir können von vorne anfangen. Von ganz vorne. Nur wir beide. Ich bin durch mit dem Scheiß hier. Es wird wie früher. Was sag ich, es wird besser.“
„Gerd…“. Sie fuhr sich hilflos durch die Haare.
„Aber hör mir doch zu. Weißt du noch, als du mal mitten in der Nacht aufgewacht bist und meintest, du würdest mit mir überall hin gehen, wir würden uns ne kleine Hütte in den Wäldern Kanadas suchen und scheiß auf den Rest und alles? Weißt du das nicht mehr?“
„Ach Gerd..“
„Was denn?“ fragte er. Verzweiflung kroch langsam in ihm hoch. Konnte sie sich nicht erinnern? Auf einmal fiel ihm Schmitz ein. Schließlich war es seine Wohnung.
„Liegt es an dem Bastard? Er hat dich geschlagen, ich habs gesehen! Dem Wichser schlag ich den Schädel ein. Ist er da?“
„Nein, er ist fort, keine Ahnung wohin. Wir hatten Streit...“ Sie rieb sich den Bauch.
„Also, dann komm mit mir! Willst du das denn nicht verstehen? Ich krieg das alles wieder ins Lot, glaub mir. Wenn du nur bei mir bist…“
„Es ist besser wenn du jetzt gehst.“ Fingerd konnte die Kälte in ihren Worten spüren.
„Aber..“
Sie stöhnte.
„Gerd. Wir waren Kinder. Ich bin meinen Weg gegangen und du deinen. Ich bin nicht mehr die, die du denkst zu kennen. Werd doch endlich mal erwachsen! Ich sags dir ungern so deutlich, aber sonst kriegstes nicht in deinen Dappschädel. Hau einfach ab und lass mich in Ruhe, MEINE GÜTE!“. Den letzten Satz schrie sie fast. Fingerd sah, dass ihr Körper zitterte, so als ob sie weinte. Er wurde still und sah sie an. Dann verstand er. Er spürte wie sich eine Schlinge aus Scham um sein Herz legte, so dass er glaubte keine Luft mehr zu bekommen. Er torkelte zwei Schritte zurück. Dann drehte er sich um und ging langsam davon.
„Gerd.“
„Was denn?“ Er drehte sich nicht um.
„Komm bitte nie wieder.“.

Er lief und das ne ganze Weile. Er lief zum Bahnhof und wieder zum Zentrum zurück. Er lief bis es langsam hell wurde und der Verkehr auf den Straßen merklich zunahm, all die Menschen wie von einer unsichtbaren Feder getrieben, sich ihr tägliches Glück zu holen, ihre Sorgen in ihrer Belanglosigkeit zu ersticken, so angestrengt, dass sie kaum Zeit für Worte oder Blicke füreinander hatten. Er fühlte sich, als ob er durch eine Stadt der Toten wanderte, aber eigentlich fühlte er sich selbst wie ein Geist, ein Phantom. Er kam an Kurtys kleinem Kiosk vorbei und erbettelte sich ein kleine Flasche Korn, setzte sich an den Straßenrand und würgte sie zur Hälfte herunter. Sie konnte das Gefühl nicht vertreiben, also kotzte er den Kram wieder raus und warf den Rest weg. An der Ecke parkte ein Polizeiwagen. Die Bullen waren gerade in der Bäckerei und holten sich ihr Frühstück. Als sie wieder herauskamen ging Fingerd auf sie zu und wollte sich stellen. Er bat sie eindringlich, ihn mitzunehmen, doch die wussten von nichts und schickten ihn wieder weg. „Wir haben keine Zeit für deine Spinnereien.“, war alles was sie ihm an den Kopf warfen. Auch als Fingerd vor lauter Wut seinen Schwanz rausholte und damit herumwedelte, konnte er sie nicht dazu bringen ihn mitzunehmen, also packte er sein Ding wieder ein. Ein paar Frühaufsteher, darunter die Bäckereitante starrten ihn entsetzt an. Er blickte zu Boden und schaute zu dass er dort wegkam.
Der Fußgängerweg nach Neuhofen führte über die Autobahn. Er machte halt und sah sich die vorbeirasenden Autos an. Für einen Moment dachte er daran, sich umzubringen. Einfach über die Brüstung und alles fallenlassen. Aber er brachte es nicht fertig. Da er nicht wusste, was er sonst machen sollte, lief er zurück ins Zentrum, wo er den ganzen Tag damit verbrachte, apathisch Pfandflaschen zu sammeln und bei der Tankstelle und dem Supermarkt, wo nichts mehr auf den Vorfall letzte Nacht hindeutete, gegen Kleingeld einzutauschen. Als es langsam Abend wurde, entschied er sich schließlich, zur Grube zurückzukehren.
Einige Tage(/Zeit) später saß Fingerd auf seinem Schlafsack im hinteren Eck, mit dem Rücken an den Lehmboden gelehnt, schaukelte eine Flasche Wodka hin und her, den ihm irgendeiner bei seiner Rückkehr in die Hand gedrückt hatte, er wusste gar nicht mehr genau wer und es war auch egal, und sah in den Himmel. Die meisten waren noch unterwegs, ein paar schliefen schon. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Wolken in ein wunderschönes Lila. Er musste an Gabi denken, an Gabi früher. An der Wand gegenüber stand Messie-Sally mit Romain dem Wallonen und Harry. Es schien eine gesellige Runde zu sein, sie lachten unbeschwert und auch eine Flasche ging herum. Fingerd hatte sie nach Kalle gefragt. Ihm schien es gut zu gehen und brauche nur noch ein paar Tage Ruhe und Schlaf. Fingerd sollte das Recht sein, er machte sich nur Sorgen, ob sie ihn überhaupt wieder gehen lassen würde. Plötzlich hörte er Messi-Sally aufschreien oder lachen, das wusste man nie so genau. Sie stand mit dem Rücken zur Grubenwand und bewegte ihr Becken vor und zurück. Der Wallone war vor ihr und ackerte sich ab. Sally stöhnte, während Harry ihr das T-Shirt hochschob und ihr die Brüste drückte. Ein paar Meter weiter saß Methusalem in seinem Sessel und schaute der Szene genüsslich zu. Fingerd wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus dem Gesicht.
„Na, was ist los mit dir? Du bist doch so ein harter Knochen…“, sagte er zu sich selbst. Er sah in ihre leblosen Gesichter. Es war armselig. Seine rechte Hand rutschte in die Hose und fing an seinen Schwanz zu massieren, doch er war zu besoffen und zu erschöpft um zu wichsen.
Methusalem sah zu ihm hinüber und grinste ihn seltsam an.
„Morgen“, dachte Fingerd bei sich, „morgen bin ich hier weg.“. Dann drehte er sich zur Seite und schlief ein. Falls er geträumt hatte, dann irgendetwas von Paul, Methusalem und einem Messer.