Samstag, 31. Dezember 2011

Mord an Mickey Mouse

Diese scheiß Briefe. Ohne Vorwarnung schlagen sie ein und man kann sie selbst niemandem mehr um die Ohren schlagen, da sich der Postbote zu schnell wieder verdrückt um erkannt zu werden. Schlimmer sind nur noch die ständigen Telefonanrufe, vor denen man auch schwer in Deckung gehen kann. Aber da kann man wenigstens vorsorglich das Telefon von der Leitung nehmen. Bei Briefen bist Du machtlos. Da stapeln sich die Dinger auf dem Schaukelstuhl und man ist fest entschlossen, sie zu einem günstigen Zeitpunkt allesamt in den Müll zu werfen, tut es aber dann doch nicht, weil da stets noch die Neugier bleibt. Vielleicht doch eine unerwartete Erbschaft oder die Kündigung, die einige Probleme lösen würde. Aber Erbschaft war bei meinen familiären Verhältnissen so ziemlich ausgeschlossen und für die Kündigung arbeitete ich zu gewissenhaft, weil es ja eh keine Alternative gibt. Wie deutschlandweite Revolution oder wenn die Toten aus ihren Gräbern stiegen. Auf beides haben wir ja schon lange genug gewartet und niemand bewegt sich. Also wächst der Stapel, bis alles rechts und links herunterzufallen droht und man anfängt, als meditative Vorbereitung zur endgültigen Öffnung oder Vernichtung die Dinger schon einmal zu sortieren. Mal nach Farbe des Umschlages, mal nach Größe. Manchmal drückt mir die Brust, als müsste ich laut losschreien, doch ich schreie nicht. Ich kippe 1-2 Flaschen Wein, dann rutsch ich auf die Knie und kotze alles wieder heraus. Das nimmt den größten Druck und wenigstens kommt irgendetwas aus dem Mund. Wir lassen andere schreien und amüsieren uns darüber, so läuft das doch heutzutage. Ab und zu schauen wir hinüber zu den nun drei oder vier Stapeln, öffnen aus Neugier einen vermeintlich wichtig aussehenden Brief, ärgern uns aber dann doch wieder über miese Werbeangebote und wünschen uns, ihn gleich weggeschmissen zu haben. Ich lebte in einer kleinen 30m2 Wohnung im 2. Stock eines Mietshauses mit vielleicht 6 weiteren Parteien, von denen ich die meisten nur vom Smalltalk im Treppenhaus kannte, und sie waren alle nicht besser und schlechter als irgendwo sonst. Nur gleichsam uninteressant, was sie wahrscheinlich von mir ebenso dachten. Und auch Recht damit hatten. Ich ging morgens um acht aus dem Haus, saß mir den Arsch vor einem großen Monitor breit, in dem lauter Zahlen aufflackerten, kam um 18 Uhr wieder heim, ging zügigen Schrittes nach oben, legte mir etwas Musik auf und holte den Wein aus dem Kühlschrank. Damit war ich genauso normal wie jeder andere, der keine Frau und wenige Freunde hatte. Nur mit dem Unterschied dass ich ungleich dümmer war. Nach ein paar Gläsern, immer ungefähr um zehn Uhr, bekam ich das unbedingte Bedürfnis, den PC anzuschmeissen und zu schreiben. Mit etwas benebeltem Kopf bildete ich mir ein, der neue Bukowski oder Céline zu sein, und schrieb über Penner, Drogen, Alkohol und was mir sonst so in den Kopf kam. Ich zehrte aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, achtete jedoch sehr darauf, Geschichten, die mir persönlich zu nahe gingen, auszulassen. Das tat ich aus purer Angst. Angst davor, meinen Gefühlen und der Essenz der Erlebnisse nicht gerecht zu werden oder diese sogar kaputt zu machen, für immer zu versauen, weil ich sie vielleicht doch nicht buk-like auf den Punkt bringen konnte und letztendlich merkte, dass ich besser wie meine Nachbarn ins Kino oder zum Mountainbiken gehen sollte, oder einmal im Jahr nach Mallorca und mir im Sangria-Rausch die Syphilis holen. In den letzten Wochen hatte ich mehr Poe gelesen, als mir gut tat und mir in den Kopf gesetzt eine Detektivgeschichte zu schreiben. Die Hauptfigur war ein pädophober Ex-Knackie, der sich nach seiner Zeit in der JVA Bielefeld-Senne, in der er wegen Überfall eines Kindergartens (Zweck: Traumatisierung der Kids) saß, in einem kleinen bahnhofnahen Hotel im französischen Chessy einquartierte. Im Knast gabs nicht viel zu lesen, außer einer recht umfangreichen Sammlung von Disney-Comics eines Leidensgenossen, die er nach anfänglicher Abscheu eines Tages doch einmal in die Hand nahm. Zunächst aus reiner Langeweile, entwickelte er von Heft zu Heft eine Obsession; er hasste Kinder nach wie vor, aber ihre Gedankenwelt faszinierte ihn. So fing er an zu analysieren: Motive, Figuren, Dialoge, ja sogar Farben und Formen, bis er irgendwann eigene kleine Comics in sein Notizbuch kritzelte, täuschend echt. Unmittelbar nach seiner Entlassung stieß er auf eine Schlagzeile in der Tageszeitung: „Mickey Mouse ermordet – Disney-Land im Schock“. Ein nordafrikanischer Student einer Pariser Universität, der sich was dazu verdiente, indem er in einem dieser klobigen Ganz-Körper-Kostüme auf und ab hüpfte und den Besuchern des Freizeitparks unentwegt zuwinkte, war tot neben dem Eingang zu Pirate Island gefunden worden. Man fand ihn in einem Gebüsch, nachdem einem Besucher der schwarze Plastikfuß aufgefallen war, der daraus hervorragte. Die Leiche steckte noch im Mäusekostüm und die roten Flecken im Brustbereich verrieten, dass der Mörder mehrfach mit einem Messer zugestochen haben musste. Das Kopfteil lag einen halben Meter entfernt vom toten Körper. Außerdem hatte man ihm den Hosenteil heruntergezogen und den Penis abgetrennt, welcher ebenso wie die Tatwaffe nicht aufzufinden war. Die Polizei war – wie so oft, und vor allem bei Afrikanern – ratlos. Unserem Ex-Knackie, schon ziemlich gelangweilt von dem Post-Knast-Alltag schlug das Herz höher. Er kaufte sich ein Zugticket nach Frankreich, mit dem festen Vorsatz diesen Fall zu lösen. Im Gepäck lediglich sein Notizbuch, ein paar abgetragene Klamotten und das Entlassungsgeld. Direkt am Bahnhof und gegenüber dem Eingang zum Disney-Land mietete er sich in ein Raucherzimmer mit kleinem Schreibtisch ein, zunächst für eine Woche. Die Wahl war wohl überlegt, denn im selben Hotel war auch der ermordete Student für die Dauer seiner Semesterferien untergebracht gewesen. Der Ex-Knacki kaufte sich einen billigen Hut mit Krempe, einen Trenchcoat und eine Flasche Bourbon und zack – wurde aus dem gewöhnlichen Hotelzimmer ein Detektivbüro. Es war klar, wenn jemand den Fall lösen konnte, so war er es. Soweit stand die Story, eine gute, wie ich fand, allerdings war ich seit zwei nun fast zwei Wochen keinen Satz mehr weitergekommen. Die Delete-Taste machte Überstunden. Wenn ich mal eine Idee bekam, fand ich nicht die richtigen Worte dafür; alles wirkte blass und gestellt und schließlich verwarf ich sie wieder. Es machte mich ganz kirre. Eines Abends saß ich wieder da und hatte außer einer Flasche Roten nichts zustande gebracht. Da ich allmählich müde wurde, machte ich mir einen Kaffee, nahm den Löffel aus der dampfenden Tasse, legte ihn in das Weinglas vor mir und schaute zu, wie der Wein rings um den Löffel zu blubbern begann. Ein Ritual, das ich mir angewöhnt hatte. Ich kippte das Glas ab und schmiss es an die Wand, wo es mit einem grandiosem KLIRR zerschellte. Die Dutzend roten Sprengel darauf erweckten mittlerweile den Anschein, als wäre hier ein verrückter Maler am Werk gewesen. Oder ein Metzger. Der Unterboden des Glases hatte den Briefstapel auf dem Schaukelstuhl erwischt, so dass einige heruntergefallen waren. Ich schlüpfte in meine Hausschuhe und wollte sie wieder aufheben, als ein Umschlag meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Knallgelber Umschlag, kein Absender. Ich setzte mich aufs Sofa und öffnete ihn. Der Verfasser hielt sich nicht mit Formalitäten auf: „Fick Dich. Ich seh wieder das schwarze Loch in der Wand und den pechschwarzen Strudel. Flüstert mir allerhand Blödsinn zu. Scheisse. Ich weiß nicht warum ich dir schreib. Du wirst es eh nie verstehen. Ich ja auch nicht. Es tut mir so leid. Das Meer hier ist wunderschön. Nachts sitz ich draußen und hör den Wellen zu. Wie ein kleines Mädchen. Dumm oder? Bis sich mir der Hals zuzieht und ich Angst bekomme. Hab gerade gefickt. Das schreibe ich dir nur, um dir weh zu tun. Den Fleck an der Wand bekomme ich nicht weg. Vielleicht mit meinem Blut, denk ich mir oft. Vielleicht mit deinem. Nicht mehr lange, dann verschwinde ich. Einfach im Strudel, meinem eigenen Meer. Ach vergiß es. Ich liebe dich. Ps. Fick dich.“ Die letzten beiden Worte waren mehrfach nachgezeichnet mit dem blauen Kugelschreiber, mit dem der ganze Brief geschrieben wurde. Obwohl ich ziemlich sicher war, das er nicht an mich adressiert sein konnte, löste er bei mir ein bedrückendes Gefühl aus. Ich fühlte mich nicht in der Lage auch nur einen einzigen weiteren Satz meinem eifrigen Detektiven zu widmen, also machte ich den Wein leer, ging kotzen und legte mich schlafen. Am nächsten Tag lief so einiges nicht zusammen. Ich verschlief, musste im Regen nach meinem Auto suchen, da ich es aufgrund der Parkplatzsituation nicht wie gewohnt direkt vorm Haus abgestellt und dies natürlich vergessen hatte und so vieles mehr. Fast hätte ich sogar ne Katze überfahren. Trotzdem fühlte ich mich großartig, ich wusste gar nicht warum. Gegen sechs kam ich nach Hause, doch statt wie sonst direkt die Treppen hochzuhuschen, ging ich in den Keller. Der Brief ließ mir keine Ruhe. Ich hatte den ganzen Tag, jedenfalls solange es meine Arbeit zuließ, damit verbracht, mir Gedanken darüber zu machen, wer diese mysteriöse Frau war, und welches Geheimnis sich hinter dem ganzen verbergen mochte. Irgendetwas musste passiert sein, das zwischen ihr und dem ebenso mysteriösen Empfänger steht. Außerdem faszinierte mich diese direkte, gleichsam verzweifelte aber auch aggressive Art, in der sie den Brief verfasst hatte. Leider gab es keinen einzigen Hinweis auf ihre Person. Da der Brief jedoch eindeutig an meine Adresse geschickt worden war, musste es möglich sein, zumindest etwas über den Empfänger herauszufinden, der höchstwahrscheinlich vor mir hier gewohnt hatte. Mir war eingefallen, dass jedem Mieter ein kleiner Raum im Keller zur Verfügung stand. Diesen hatte ich in den 6 Monaten, die ich hier lebte, noch nie benutzt, aber vielleicht fanden sich dort irgendwelche Anhaltspunkte, dachte ich mir. Der Keller bestand aus einem großen, anscheinend sehr alten Gewölbe mit spärlichem Licht, das in mehrere Parzellen hinter rostigen, gewellten Gittern aufgeteilt war. Die Leute hatten allerhand Ramsch, Staubsauger, alte Möbel oder ähnlichen Scheiß hier verstaut. Lediglich eine Parzelle war komplett leer. Als ich meinen Schlüssel versuchte, ging das Schloss auf, allerdings fand ich außer einer kleinen giftgrünen Haarspange, halb vergraben unter dem Dreck in der Ecke, überhaupt nichts. Ich war etwas enttäuscht und wollte gerade wieder hochgehen, als ich Schritte von der Kellertreppe hörte, begleitet von einem schweren, unsteten Atmen. Ich fühlte mich ertappt und blieb stehen als plötzlich eine Gestalt im Gang erschien. „Man haben Sie mich erschreckt.“ Hallte eine raue Stimme durch das Gewölbe. Ich erkannte I. aus dem Erdgeschoss, ein alter Mann mit längerem grauem Haar und einer Armprothese, den ich aufgrund seines stets gepflegten Äußeren und der extravaganten Lederschuhe für einen ehemaligen russischen Zuhälter oder Buchhalter hielt. Ich hatte nie ein einziges Wort mit ihm gewechselt. In dem schummrigen Kellerlicht machte er eher den Eindruck eines ganz gewöhnlichen Penners. Er lachte. „Sie sind doch aus dem Ersten, oder?“ „Stimmt. Wollte mir mal mein Verließ hier anschauen.“ „Ja, man weiß nie, wann man mal jemanden wegsperren muss.“ Er lachte erneut. „Aber hervorragend für die Lagerung von Weinen. Sie trinken doch Wein, oder?“. Er machte sich am Schloss einer Zelle am Anfang des Ganges zu schaffen. „Nicht wenn es sich nicht vermeiden lässt.“ „Oh, wann lässt sich das schon.“ Erwiderte er und fischte sich eine Flasche aus dem Regal. Er balancierte sie in den Händen wie einen Totschläger. „Sagen Sie, wohnen Sie schon lange hier?“ fragte ich. „Warum fragen Sie?“ „Ich habe gestern einen Brief an meinen Vormieter erhalten und ich dachte, vielleicht kannten Sie ihn.“ Er hielt kurz inne. „Haben Sie nicht Lust, mit hochzukommen? Ich lad Sie auf ein Gläschen ein. Immerhin haben wir uns noch nicht so richtig kennengelernt. Dann können wir uns auch ein wenig unterhalten…“. Ich zögerte. Eigentlich hielt ich nicht viel von diesem nachbarschaftlichen Geklüngel nach dem Motto – leih mir du deine Schraubenzieher und ich schick dir ne Grußkarte zu Weihnachten und den ganzen Scheiß. Allerdings schien er etwas zu wissen und das machte mich neugierig. Ich nickte. „Schön schön! Nehmen Sie noch ne Pulle mit. “ Ich gehorchte und folgte ihm nach oben. Die Wohnung von I. hatte den gleichen Grundriss wie meine, war jedoch, ganz wie ich es erwartet hatte, von einer schlichten Eleganz und Sauberkeit. Aus dem Wohnzimmer ertönte treibende Jazzmusik, irgendeine Live-Aufnahme, bei der ein Saxophonist gerade unter vereinzeltem Beifall des Publikums ein Solo spielte. I. ging festen Schrittes voran und räumte schwungvoll eine leere Weinflasche vom Tisch, auf dem ein fast leeres, großbäuchiges Weinglas stand. Seine Prothese quietsche leise. Jetzt im Licht wirkte er wieder wie ein stolzer und vitaler alter Mann; jede seiner Bewegungen schien instinktiv bestimmt und kraftvoll zu sein. Nur die Furchen in seinem Gesicht verrieten, dass er wohl jenseits der 70 war. Er stellte mir ein zweites Glas hin und ich schenkte mir ein. Ich fragte, ob ich seines auch wieder voll machen sollte. „Langsam, langsam. Ich habe doch noch einen Schluck. Man sollte der einzigartigen Note dieses Weines einen gewissen Respekt entgegenbringen. Es ist wie ein mühevoll zubereitetes Abendessen. Man genießt den Hauptgang und anschließend den Nachtisch, würde aber nie auf die Idee kommen, die Schokolade ins Arschloch der Ente zu schmieren.“. Ich sagte nichts. Er lachte und streckte mir die gesunde Hand entgegen. „Viktor.“ „Vincent“, entgegnete ich. „Na dann!“ Wir stießen an. Ich ließ meinen Blick beiläufig durch den Raum gleiten. Viktor schien keinen Wert auf die sentimentalen, persönlichen Andenken legte, mit denen die Menschen für gewöhnlich ihre Wohnzimmer zukleisterten. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren eine große Ledercouch, zwei hohe Holzschränke und die Stereoanlage, aus der die Musik kam sowie zwei mittelgroße Ölgemälde an der Wand, mit kräftigen roten und braunen Strichen auf schwarzem Untergrund, die abstrakte menschliche Gestalten in Bewegung andeuteten. „Afrikanischer Totenkult“, nahm er meiner Frage vorweg. „Wo hast Du die her?“ „Ich hab sie gemalt. Sag mal Vincent, was machst Du eigentlich, beruflich meine ich.“ „Büro. Nichts Spannendes.“ „Oh.“ Er schien enttäuscht, schob jedoch gleich hinterher: „Entschuldige, wir kennen uns zwar nicht, aber ich hatte einen anderen Eindruck. Keine Ahnung warum. Vielleicht ist es dein Blick. Und was machst Du, wenn du nicht im Büro oder in irgendwelchen Kellern bist?“. „Naja, ab und zu schreibe ich, ist aber im Grunde nicht nennenswert.“ „Ahh, ein Schriftsteller.“, Viktor machte eine dramatische Geste mit seinem gesunden Arm. „ Wußt ichs doch! Manchmal bringt das Alter Dummheit, manchmal Intuition. Aber Kunst ist gefährlich, ich hoffe das weißt du.“ Ich war etwas irritiert also sagte ich nichts. „Ach was erzähl ich. Hör nicht auf betrunkene alte Männer! Zum Wohl, sagt man hier, oder?“. Der Wein schmeckte echt klasse, nicht so ein mieses Gesöff, das ich gewohnt war, und stieg mir langsam richtig zu Kopf. Nach einer Weile hatte mich sogar der Jazz. „Und du bist Maler oder was?“, fragte ich ihn nach einer Weile. „Was denkst Du Vincent?“ „Hast nicht wirklich viel Fotos hier. Wer sagt mir, dass du dich nicht vor den Bullen versteckst oder so was?“. Das sagte ich halb im Spaß. „Vincent, sagen wirs so. Ich beobachte Menschen, so wie du auch. Menschen wie wir müssen sich immer vor den Bullen in Acht nehmen. Oder sie vor uns. Aber das ist nicht das Problem.“ „Und das wäre?“ „Dass die Flasche leer ist! Haha!“. Er erhob sich und kramte eine alte braune Flasche aus dem einen Schrank. Diesmal war ich mir nicht sicher, was dabei quietschte. Ein mexikanischer Agaveschnaps, erklärte er mir. Als junger Kerl hatte er an der Panamerica mitgebaut. Er erzählte mir allerhand wilde Geschichten über diese Zeit, in die er als einziger Gringo zwischen unzählbaren Tequila-trinkenden Verrückten von Mittel- bis Südamerika gezogen ist, dem Ruf der Straße folgend. Ich wusste nicht recht, ob ich ihm die ganze Show glauben sollte, aber ich hörte begeistert zu und trank. „Afrika war jedoch das schönste und schrecklichste, was ich erlebt habe.“ Er deutete auf die beiden Bilder an der Wand. „Das bin ich und mein Bruder. Wir waren vielleicht 12 oder 13 Jahre alt.“ „Lebt er noch?“ „Davon bin ich überzeugt. Unwichtig. Sag mal, stehst Du auf Frauen?“ Aha, also doch ein Zuhälter, dachte ich mir. Ich zögerte. „Tut mir leid. Vergiss es.“. Er trank das Zeug in großen Schlücken. Es fiel mir immer schwerer mitzuhalten. Er steckte mich voll in die Tasche. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der sich derart gepflegt einen hinter die Binde kippte und dabei noch so eine gute Figur machte, vor allem in seinem Alter. Irgendwann fing ich an zu schielen und merkte, dass ich meine Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich kapitulierte und verabschiedete mich unter einem Vorwand. Anstandshalber lud ich ihn für das nächste Mal zu mir nach oben ein. Die paar Stufen zu dorthin bewerkstelligte ich unter größtem Aufwand. Als ich endlich im Bett lag ärgerte ich mich, von diesem alten Zuhälter unter den Tisch gesoffen worden zu sein. Zudem fiel mir ein, dass ich ihn kein einziges Mal mehr auf meinen Vormieter angesprochen hatte. Nicht dass mir die Unterhaltung keinen Spaß gemachte hatte, ich fand sie sogar richtig belebend. Seine Geschichten hatten was für sich, aber sobald ich etwas Konkreteres wissen wollte, hatte er mir eingeschenkt und das Thema gewechselt, im Grunde hatte er sich gewunden wie eine Schlange. Bis ich irgendwann vergessen hatte, warum ich überhaupt mitgekommen war. Dieser elende Mistkerl. Ich machte den Eimer neben dem Bett voll und entglitt in einen tiefen Schlaf. Die nächsten Tage sah ich nichts von Viktor und ging wieder an meine Geschichte. Mein Detektiv im französischen Hotel machte das Zimmer ausfindig, in dem der ermordete Afrikaner gewohnt hatte. Selbstverständlich hatte die Polizei bereits alles gründlich durchsucht und sämtliche Habseligkeiten mitgenommen, so dass er, nachdem er sich mit seiner Kreditkarte Zugang verschafft hatte, nichts Außergewöhnliches fand. Den Tatort selbst aufzusuchen, konnte er sich noch nicht überwinden; ihm stellten sich die Nackenhaare, wenn er sich nur die Scharen der nervtötenden Kinder im Park vorstellte. Jeden Abend besuchte er die Hotelbar und ließ durchklingen, dass er ein Freund des Ermordeten gewesen war. Die Angestellten überschlugen sich fast vor Mitleidsbekundigungen und gaben ihm einen Drink nach dem anderen aus. Eines Abends saß er wieder an der Theke, als eine junge Frau sich neben ihn setzte. Sie hatte etwas Osteuropäisches und stellte sich als einer der Putzfrauen des Hotels vor. Nervös wippte sie mit den Beinen auf und ab. Der Detektiv spendierte ihr einen Cocktail. Nach ein paar Schlücken zückte sie einen Brief aus ihrer Jackentasche und drückte sie dem Detektiv an den Bauch. An dem Tag des Mordes, erzählte sie ihm mit leiser Stimme, hatte sie ihn mitsamt einer kleinen Schmuckschatulle aus dem Zimmer geklaut, im Glauben, etwas Wertvolles darin zu finden. Als sie sie am nächsten Morgen zurückbringen wollte, hatte die Polizei schon alles abgesperrt, also behielt sie ihr Diebesgut. Den Schmuck hatte sie verkauft, aber den ungeöffneten Brief behielt sie, weil sie nicht wusste, was sie damit machen sollte. Er, als ein Freund des Afrikaners, sollte ihn nehmen und ihr bitte verzeihen, sie schämte sich so. Der Detektiv machte große Augen, aber redete ruhig auf sie ein, sie solle sich keine Gedanken machen. Er steckte den Brief ein, bestellte ihr noch ein Getränk auf seine Rechnung und verließ die Bar. Ich war wieder im Rennen. Niemand, der nicht schreibt, kann sich vorstellen, wie groß die Erleichterung ist, wenn man nach einer längeren Blockade wieder ein Stück weiterkommt. Ich ging zum Kühlschrank und machte mir einen Whiskey Cola mit Eis. Es war vielleicht nicht nobelpreisträchtig, aber es reichte, mich davon abzuhalten, mein Glas wieder an die Wand zu pfeffern. Ich lehnte mich zurück und trank genüsslich, während ich mir Gedanken über den Fortgang meiner Story machte. Dann fiel mir meine Einladung an Viktor ein. Ich sah mich im Zimmer um. Es sah aus wie ein Saustall. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal aufgeräumt hatte, aber mein Gedächtnis ließ mich im Stich. Normalerweise war es mir scheißegal, was jemand über meine Wohnung dachte, denn die meisten Leute, die ich ab und zu hier hatte, waren eh halb verrückte oder Alkoholiker wie ich. Viktor war jedoch ein anderes Kaliber. Obwohl ich beides bei ihm nicht ausschließen konnte, hatte dieser einarmige Lude etwas das mich faszinierte. Möglich, dass er nur ein alter Schwätzer war, auf jeden Fall aber ein sehr unterhaltsamer und vor allem sehr ordentlicher Schwätzer. Der Gedanke, dass er vom Anblick meines Chaos hier abgestoßen sein würde machte mich unruhig, also stand ich auf und fing an, die ganzen dreckigen Klamotten und benutzten Teller wegzuräumen. Ich fegte die Glasscherben vom Boden, ein halbes Duzend mittlerweile, und begann die eingetrockneten Weinflecken von der Wand zu schrubben. Ich schrubbte wie ein Bekloppter, jedoch ohne wirklichen Erfolg. Auf einmal wurde ich stutzig. Neben den Auswüchsen meiner nächtlichen Eskalationen entdeckte ich einige dunklere, kaum erkennbare Stellen, die nicht von mir stammen konnten. Ich holte ein Messer und schnitt kreisrunde Stücke aus der Tapete aus. Darunter kam eine zweite, ältere Tapete zum Vorschein, die komplett überkleistert worden war. Die Flecken darauf waren dunkler, fast braun, jedoch nicht so verprengelt wie die, die mein Wein hinterlassen hatte. Ich rückte die Lampe näher und erschrak. Blut, schoss es mir durch den Kopf. Dann stieß ich ein kurzes Lachen aus. Es konnte auch alles möglich andere sein, sagte ich mir, doch 100%ig überzeugt war ich nicht. Naja, dachte ich mir, wer weiß, ob sich Viktor überhaupt noch an die Einladung erinnern konnte, also beendete ich die Putzaktion, setzte mich wieder auf die Couch und las ein paar Kapitel in Canettis Masse und Macht, während ich den Whiskey leerte. Mitten in der Nacht wachte ich im eigenen Schweiß auf, das Buch auf dem Bauch. Ich feuerte es in die Ecke und wankte schlaftrunken ins Bett. Am nächsten Tag lief ich auf Sparflamme im Büro und verabschiedete mich ins Wochenende. Im Briefkasten lag wieder ein gelber Umschlag. „Gestern habe ich geträumt, dass Du neben meinem Bett stehst und mir … vorsingst. Ich seh Dein Gesicht noch immer vor mir. Dein sanftes Lächeln, als wäre alles gut. Ich habe geträumt, dass ich einschlief. Als ich aufwachte, hatte ich aber wieder diese Wut auf dich. Suppe ohne Salz und Pfeffer, die mir aus dem Hals wieder hinausläuft, ohne dass ich satt werde. Ich war vorgestern wieder am Meer. Der Mond strahlte wie eine zweite Sonne und der Klang der Wellen, wie sie in einer ewigen Bewegung vorpreschten und wieder davongingen war hypnotisierend. Nach einer Weile sah man noch nicht einmal meine Fußspuren mehr. Wie als wäre da nie jemand gewesen. Der Gedanke lässt mich grinsen. Das Gewinnspiel von Fleisch und Blut, hat er mal gesagt. Ich fühle mich mittlerweile ihm näher als dir, da vergeht dir das Lachen, oder? Vergiß das Fragezeichen. Du kannst mich mal.“ Höchste Zeit, dachte ich mir. Im Grunde kam ich mir vor, als wäre ich in einem merkwürdigen Film gelandet und hätte mein Drehbuch verschlampt. Ich musste aggressiver an die Sache herangehen, also nahm ich das Telefon wieder in Betrieb, suchte aus dem Telefonbuch Viktors Nummer und drückte den grünen Knopf. Es klingelte eine Weile, dann nahm er ab. „Viktor I., bitte?“ „Passen Sie auf, wir wissen was Sie im Schilde führen. Leugnen hat keinen Zweck mehr. Wir haben Sie beobachtet, Sie Stück Scheiße. Sie haben ihn umgebracht. Wir haben die Beweise.“ Stille. „Vincent?“, fragte er schließlich. Ich hatte vergessen, meine Stimme zu verstellen. Ich fluchte in mich hinein. „Ja ich bins. Hab nur Spaß gemacht. Wollte fragen ob du hochkommen willst.“ „Alright. Du hättest die Stimme verstellen sollen. Viertel Stunde.“ Ich hatte gerade noch genug Zeit, eine Kommode vor die Wand mit den Flecken zu schieben, mir frische Socken anzuziehen und ein Bier zu holen, bis er klingelte. Viktors Augen glänzten, als er sich neugierig, jedoch nicht angewidert in der Wohnung umsah. Unter seiner Prothese hatte er eine neue Flasche mit Agavenschnaps eingeklemmt und stolzierte durch das Zimmer, bis er sich schließlich auf meinen Ledersessel breit machte. Wir tranken eine Weile, wobei ich mich etwas zurückhielt, und hörten Musik, die diesmal ich auflegte. Nirvana Unplugged; ich wollte es nicht übertreiben. Es stellte sich heraus, dass er mehr von Musik verstand, als ich ihm zugetraut hatte. „Der arme Bub. Nicht ganz meine Zeit, aber ich finde er hatte ein gutes Gesicht.“, meinte er. Wir stießen an mit dem grünen Gesöffs. Irgendwann war nichts mehr zu trinken da, und da ich ihm nicht wieder seinen guten Wein schnorren wollte, schlug ich vor, gemeinsam zur Tankstelle zu laufen, die zwei Blocks weiter lag. „Ein bisschen Laufen ist gut.“, sagte er. Es war ein fantastischer Abend, der Frühling lag in der Luft, so dass ich richtig gute Laune bekam. Viktor zeigte sich interessiert über meine Schreiberei, von der ich normalerweise niemandem etwas erzählte und er erzählte mir von den Mädchen in Südafrika. Wie zwei Outlaws liefen wir die Straße entlang und quasselten wie alte Freunde, die sich schon eine Ewigkeit kennen. Die Kassiererin lehnte über einer Zeitschrift und nahm kaum Notiz, als ich Viktor zum Weinregal folgte. Er griff nach den staubigen Flaschen ganz oben und ich erschrak leicht, als ich die Preisschilder sah. Der alte Zuhälter ließ sich nicht lumpen. „Du Viktor, schau mal. Der hier ist auch nicht schlecht, und viel billiger.“ „Ach quatsch.“, meinte er nur und schüttelte den Kopf. Ich schickte ein Stoßgebet an sämtliche Götter, die mir in dem Moment einfielen, dass er mich hier nicht alleine reinreiten ließ. Einige Regale hinter uns waren zwei Kids dabei, nach dem Fünffinger-Rabatt einzukaufen und ließen einige Schnapsflaschen in ihrem Rucksack verschwinden. Sie waren 18 oder 19 und blickten sich ziemlich nervös im Laden um. Ich rechnete damit, dass es hier gleich zu einer Szene kommt, so dämlich wie sie sich anstellten. „Guck da nicht so hin, Vincent.“, flüsterte Viktor während er die Etiketten musterte. „Als ich in dem Alter war, musste man sich da ein bisschen mehr ins Zeug legen, um keine Tracht Prügel zu bekommen.“, sagte ich. Viktor traf seine Wahl und marschierte an die Kasse. Er ließ sich noch zwei Zigarren einpacken, flirtete ein wenig mit der Kassiererin und zückte dann zu meiner Erleichterung einen Fuffi. Ich stand daneben und grinste blöd aus der Wäsche. Als wir wieder bei mir waren, fühlte ich mich so gut, dass ich mich nicht weiter mit dem Trinken zurückhielt. Ich erzählte Viktor von meiner Theorie des gemeinnützigen Massenmordes. Meines Erachtens sind nämlich alle sozialen Probleme in unserer Gesellschaft, die in der Hauptsache durch Selbst-Ekel gekennzeichnet ist, darin begründet, dass der Einzelne in der Masse untergeht und spürt, dass er keine wirkliche Rolle mehr zu spielen hat. Was in Abgrenzung und Bildung überschaubarerer Gruppen, zuweilen gepaart mit Fremdaggression und Selbstzerstörung resultiert. Dies gilt für übertriebenes Engagement in Karnevalsvereinen und Töpferkursen bis hin zur Entstehung von Subkulturen wie den Punks oder Neo-Nazis. Um die zwischenmenschlichen Kontrollmechanismen wieder herzustellen, ist eine Minimierung der lebenden Individuen unvermeidbar. Auf diese Weise gewinnt jede Naturkatastrophe oder jeder Krieg eine gewisse Art Menschlichkeit, mit dem einen Manko: Dass es immer die falschen erwischt und meist sogar die richtig guten. Aber systematischem Mord, auch wenn er selektiv geschieht, stehe ich auch etwas kritisch gegenüber, so dass wir eigentlich gar keine Wahl haben, als uns der Chose zu ergeben und höchstens im Einzelfall das Beil aus dem Keller zu holen oder den Strick zu knüpfen. Idealerweise werden die Angehörigen der Barbara-Salesch und DSDS-Generation gar nicht erst geboren, aber wer kann den Menschen schon das Ficken verbieten? Viktor hörte aufmerksam zu. Als ich fertig war, steckte er eine Zigarre an und hielt mir die zweite hin. Er nickte. „Gut, wirklich sehr gut. Aber mit dieser Theorie wirst du dir nicht viele Freunde machen. Und du hast einen entscheidenden Faktor vergessen. Die Liebe.“ „Yeah, die Liebe. Die könnte den Unterschied machen. Who knows. Darauf stoßen wir an.“ Draussen fing es an zu regnen und wir stellten uns ans Fenster und schauten zu den Häusern und der Straße hinunter. „Was hast Du gemeint damit, dass Kunst gefährlich ist?“ fragte ich ihn. Er dachte kurz nach. „Einfaches Beispiel. Kannst Du dich an die beiden Jungs erinnern, an der Tanke vorhin? Die stecken jetzt wohl irgendwo da draußen, haben ne gute Zeit mit dem ganzen Stoff, den die eingepackt haben und konnten vielleicht sogar ihre Mädels damit beeindrucken.“ „Davon bin ich überzeugt.“ „Und was wäre gewesen, wenn die gemerkt hätten, dass Du sie bemerkt hast? Genau, die hätten sich verzogen und wahrscheinlich auch nicht mehr den Mut gehabt, heute noch einen weiteren Versuch zu unternehmen, so hippelig wie die waren.“ „Was zum Teufel hat das damit zu tun?“ „Genau darum geht es. Ich weiß nicht, ob du dich schon einmal mit Quantenphysik beschäftigt hast. Die klassische Physik geht von universell geltenden Ursache- und Wirkungszusammenhängen aus, die unabhängig vom Betrachter bestehen, soweit klar?“ „Ja Newton und so.“ „Richtig. Aber wenn Du ganz tief reinschaust, in die tiefste Ebene der Materie, ist diese Annahme nicht mehr haltbar. Die Kerle haben bspw. herausgefunden, dass Eigenschaften dieser kleinsten Teilchen, wie deren Ort und Impuls nicht gleichzeitig exakt messbar sind.“ „Viktor…“, ich setzte ein angestrengtes Gesicht auf. „Nein pass auf. Wenn du in diesem Beispiel den Ort eines Teilchens misst, führt dies unweigerlich zu einer Störung seines Impulses, so dass dieser nicht mehr präzise bestimmt werden kann. Verstehst Du was das heißt? Die Messung allein hat einen Einfluss auf den Zustand dieser kleinsten Teilchen. Alle Wahrscheinlichkeiten, die im Vorfeld der Messung bestehen, manifestieren sich in diesem schicksalsträchtigen Moment in einer unumstößlichen Realität. Nur weil du hinschaust, veränderst du die Welt, zumindest unmittelbar auf dieser untersten Ebene.“ Ich steckte mir eine Zigarette an und kratzte mir den Hintern. „Was die Physiker nun im Dreieck springen lässt, ist viel umfassender, als sie denken. Dass das Werk eines Künstlers Einfluss auf den Gemütszustand und die Denkweise des Konsumenten ausübt, ist einleuchtend, was auch der Grund ist, warum beispielsweise totalitäre Regimes alles versuchen, um es auszumerzen. Dies ist aber nur die eine Seite. Ein Künstler, der sich den blinden Flecken unserer Existenz zuwendet, quasi einen Blick hinter die Kulissen wirft, begibt sich selbst auf eine gefährliche Reise, da er Dinge aufwühlen könnte, über die er keine Macht hat. Es ist wie ein Schuss mit der Schrotflinte ins Herz unserer Realität, nur dass die Veränderung so subtil ist, dass sie fast unmerklich ist. Aber sie wirkt. Rimbaud wusste Bescheid. Die Erkenntnis machte ihn krank. Er hat Schiss bekommen und einfach aufgehört.“ „Du meinst also, durch das Schreiben verändert man die Wirklichkeit? Das ist doch verrückt, Viktor.“ „Es ist nicht das Schreiben, es ist die Beobachtung, Freundchen.“ Er grinste und ich musste lachen. Ich machte das Radio an und wechselte das Thema. Wir tranken das Zeug nur so weg, als wäre es irgendein Zaubertrank, was gar nicht mal so abwegig war. Irgendwann wurden wir beide so müde vom vielen Reden, dass wir einfach nur noch dasaßen und der Musik lauschten. Viktor starrte in die Luft und bekam einen melancholischen Ausdruck ins Gesicht. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen, fragte er mich völlig aus dem Nichts: „Du hast einen Brief bekommen. Kann ich ihn mal sehen?“ Ich war müde und betrunken, so dass ich ziemlich überrascht war. Dann aber stand ich auf, ging zu der Kommode und holte beide Briefe heraus. Ich gab sie ihm in die Hand. Er nahm sich Zeit und bewegte unhörbar die Lippen während er las. Ich konnte seiner Mimik nicht entnehmen, ob er mit dem Inhalt etwas anfangen konnte. Als er fertig war, legte er sie auf dem Tisch ab und nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Hmmm.“. „Kennst du sie?“, fragte ich ihn. „Ja, ich kenne sie. Miriam. Sie hat hier gewohnt mit ihrem Mann. Genau hier in deiner Wohnung. Bis vor etwa einem Jahr.“ „Und. was ist passiert?“ Auf einmal war ich wieder wach. „Mit ihrem Mann, Christian, war ich sehr gut befreundet. Sie hatten einen kleinen Jungen, fast noch ein Baby.“ „Hatten?“ „Er ist tot. Sie ist darüber nicht hinweggekommen. Sie ist verrückt, Vincent. Wirf die Briefe weg. Sie sind für niemanden bestimmt.“ „Aber wo ist ihr Mann? Und wie ist das Baby gestorben?“ Mir wurde ganz warm und mein Blick fiel an die Wand. „WOHER SOLL ICH DAS WISSEN, DU ARSCHLOCH?“ fuhr er mich plötzlich an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Viktor schien genauso erschrocken zu sein, er fuhr sich mit seiner gesunden Hand durchs Haar und schaute mich an, als ob er gerade aus einem bösen Traum erwacht wäre. „Vincent. Tut mir leid. Meine Güte, bitte…“, sagte er mit zerbrechlicher Stimme. „Schon gut.“ „Ich weiß auch nicht… Ich hab die beiden sehr gemocht, war irgendwie in Gedanken. Ich muss gehen.“ Es war ihm peinlich, die Containance verloren zu haben, das war offensichtlich. Er erhob sich, stolperte über seine Füße und wäre fast hingefallen, kriegte aber noch den Stuhl zu fassen. Er war definitiv besoffener als ich, was jedoch nicht dazu beitrug, dass ich mich besser fühlte. „Ich bring dich runter.“, bot ich ihm an. Er winkte ab, aber ich packte ihn unterm Arm und schleppte ihn zur Tür. Nüchtern war ich auch nicht. Wir torkelten zusammen die Treppe hinunter und schafften es uns nicht hinzulegen und nur zwei der im Gang stehenden Topfpflanzen umzuhauen. Die Prothese, mit der er versuchte, die Balance zu halten, quietschte wie verrückt. Wir hätten jedes Casting für einen Kriegsfilm gewonnen. Ich half ihm seine Wohnungstür aufzuschließen und bugsierte ihn zu seinem Bett. Ich wollte ihm noch irgendetwas Beschwichtigendes sagen, aber er war eingeschlafen, kaum dass sein Kopf das Kissen berührt hatte. Als ich gerade im Begriff war wieder hochgehen, sah ich einen Schatten durch das milchige Glas der Tür, die nach außen führte. Der Deckel einer der Briefkästen, die dort angebracht waren, klapperte verdächtig. Dann war die Gestalt wieder verschwunden. Ich schätzte, dass es ungefähr halb sieben Uhr morgens war, zu früh für den Postboten, daher ging ich rasch zur Tür und öffnete sie. Es war schon sehr hell draußen und die Sonnenstrahlen knallten mir direkt auf die Netzhaut. Ich stöhnte und hob mir die Hand vors Gesicht. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich überhaupt wieder etwas sehen konnte. Die Gestalt war bereits einige Häuser weit entfernt, aber ich erkannte eine Frau in einem braunen Sommermantel, die sich schnellen Schrittes entfernte. Als sie um die Ecke bog konnte ich einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Anfang bis Mitte Dreißig mit dunklen langen Haaren. Relativ unscheinbar. Ich öffnete meinen Briefkasten und war nicht sehr überrascht, dort einen weiteren gelben Umschlag zu finden. Drei Briefe in vier Tagen. So langsam wurde mir die Sache unheimlich. Wieder oben drehte ich mir aus Tabakresten, die ich für Notfälle gebunkert hatte, eine Zigarette und öffnete ich den Umschlag. Ich zog ein Papier heraus und staunte nicht schlecht, denn es war gänzlich unbeschrieben. Verfluchte Scheiße, dachte ich mir, was soll das jetzt? Ich blickte von der Couch aus durchs Fenster, wo die Sonne bereits in voller Pracht am Himmel stand um einen weiteren Tag den Planeten mit Wärme und Leben zu überfluten. War dies Miriam gewesen, und falls ja, warum macht sie sich die Mühe, so früh am Morgen durch die Stadt zu wandern um einen leeren Brief einzuwerfen? Soweit ich wusste, hatte ich sie noch nie zuvor gesehen, obwohl sie mich von ihrer Art sich zu bewegen und ihren ernsten Gesichtszügen an eine der polnischen Erntehelferinnen erinnerte, die hier in der Gegend wohnten. Dann erinnerte ich mich an meine Unterhaltung mit Viktor, den ganzen Quantenphysik-Quatsch und ein erschreckender Gedanke machte sich in meinem Hirn breit. Hatte ich nicht zwei Tage zuvor eine osteuropäische Frau als Überbringerin eines Briefes in meine Detektivgeschichte eingebaut? Und was war mit der afrikanischen Mickey-Mouse und Viktors Afrika-Geschichten? Das haute mich von den Socken. Ich warf den PC an und rief die Geschichte auf, las die letzten Seiten wieder und wieder. Das konnte nur ein dummer Zufall sein, denn alles andere wäre, wie die Spanier sagen, increíble. Ich versuchte mich zu beruhigen, was mir irgendwann auch gelang. Na gut Viktor, dachte ich mir, dann schauen wir mal, du verrückter Hund. Ich öffnete ein leeres Word-Dokument und fing an zu tippen. „Der junge und unterschätzte Dichter V., dessen gutes Aussehen nur von seinem treffsicheren Wortwitz und durchschlagendem Stil übertroffen wurde, bekam nach einer verwirrenden, durchzechten Nacht im Kreise der Übeltäter und Schurken den höchst unerwarteten Anruf eines gewissen Mister Farenthworth, seines Zeichens Literaturagent mehrerer bedeutender Verlage. Er überbrachte ihm die Nachricht, dass er bei der Recherche der gängigen Underground-Literaturzeitschriften auf eine seiner Short Stories gestoßen sei und diese das Beste sei, was er seit Jahren gelesen hatte. Er bot Vincent einen Vertrag über drei Romane an, die in jedem Fall dazu führen würden, Grass und Hesse und die anderen Affen aufs literarische Abstellgleis zu stellen. Als V., seiner bescheidenen Natur entsprechend, etwas verhalten reagierte, wurde Farenthworth nervös, sicherte ihm eine saftige Vorauszahlung zu und bot an, auf diskrete Art und Weise dafür zu sorgen, dass Stephenie Meyer in den nächsten Wochen der Syphilis erliegen würde. Der Deal war gemacht. Schon am nächsten Tag stand vor seiner Wohnungstür ein kleiner Koffer voller Bargeld und einer Grußkarte von Farenthworth. V. wählte eine originelle Art und Weise, seine bisherige Anstellung zu kündigen, die vage etwas mit Beleidigungen, einer vollen Windel und einem toten Ratte zu tun hatte.“ Ich speicherte die Datei, schaltete den PC ab und legte mich schlafen. Der Samstag fing für mich an wie die meisten Wochenenden, mit einem riesigen Schädel und einem flauen Gefühl im Magen. Mein Kopf dröhnte jedoch so stark, dass, sobald ich ihn nur leicht bewegte, ein heftiger Schmerz von der Schädeldecke bis in den Zeh schoss. Es gibt zwei Dinge, die ich an Frauen nicht beneide. Dies wären die Schwangerschaft und die Migräne, obwohl letztere natürlich auch einige Männer zu verleiden hatten, oder dies zumindest behaupteten. Ich fühlte mich, als hätte mich gerade beides erwischt. Ich ließ mir den gestrigen Abend noch einmal durch den Kopf gehen, genauer gesagt, kniete ich mich erst einmal für zehn Minuten vors Klo. In diesen Momenten wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein ausgeglichenes, normales Leben und etwas Liebe, eine Frau, die mich von derartigen Saufereien und dem Selbsthass am nächsten Tag abhalten würde. Ich zog die Spülung und ging in die Küche, um mir Eier mit Speck zu machen. Auf einmal klingelte das Telefon. Ich zuckte zusammen, wobei es mir wieder in den Kopf schoss. Ich zögerte kurz, da ich nicht wirklich telefonieren wollte, dann nahm ich aber ab. „Farenthworth?“, fragte ich. „Häh? Ich bins. Viktor. Wer ist Farenthworth?“ „Mein Literaturagent.“ „Ah ok. Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“ „Ach lass stecken. Geht’s dir gut?“ „Ja ja. Hey, hast Du heute Abend was vor? Ich will dir was zeigen. Hol mich ab um sieben.“ „Abholen? Wo gehen wir hin?“ „Bis später.“ Er legte auf. Punkt 7 stand ich vor seiner Tür. Mein Kopfweh war etwas besser geworden im Laufe des Tages, aber dennoch hoffte ich, dass ich heute nichts trinken musste. Viktor stand im Türrahmen und sah aus wie das blühende Leben. „Wie zum Teufel machst Du das?“ fragte ich ihn. „Yoga…und ein bisschen Kokain.“. Ich sah ihn ungläubig an. Er lachte. Wer hatte mir diesen Typ geschickt, dachte ich mir. Wir gingen zu Fuß, ich hatte keine Ahnung wohin, aber lief ihm einfach hinterher. Als wir den Stadtrand erreichten, wo ein kleiner Weg am Boxerverein und einigen Pferdekoppeln entlang führte, wurde mir klar, dass wir den Industriehof anpeilen, dessen alte, hohe Backsteingebäude aus der NS-Zeit oder so am Horizont wie das Setting aus einem Post-Apokalypse Film emporragten. Die ehemaligen Fabrikgebäude, nah am Zerfall, dienten einem Dutzend Bands als Proberäume, ich selbst hatte hier einige Jahre Musik gemacht, bis wir ein paar Mal zu oft die Miete nicht gezahlt hatten. Außerdem gab es einige Werkstätten, Lagerräume, einen Käsestand mit hochwertigem französischem Käse, an dem ich nie einen einzigen Kunden gesehen hatte, sowie einen Abstellplatz für Motorboote. Das Gelände war relativ groß und eingefasst vom Rheinufer gegenüber der Straße, Wiesen und ein paar Schrebergärten. Ich war lange nicht mehr hier gewesen, daher freute ich mich, mit Viktor an den Häusern entlang zu gehen und mich nostalgischen Erinnerungen an die Nächte, die ich hier verbracht habe, hinzugeben. Viktor hielt sich den ganzen Weg über den Grund dieses Ausfluges bedeckt und war jeder Frage hierüber ausgewichen. Irgendwann standen wir vor einer leicht verrosteten Eisentür mit dicken Beschlägen, an der sich Viktor mit einem Schlüssel zu schaffen machte. Die Sonne stand schon tief und tauchte die Häuserfronten und die vereinzelten Türme dazwischen in ein bizarres Licht. Die Tür schnappte auf und ich war neugierig, was mich erwarten würde. Am Ende des Ganges, in dem sich lediglich ein Besen und eine alte Gasflasche zum Heizen befanden, führte eine wohl vor vielen Jahrzehnten zusammengebastelte Holztreppe ins obere Stockwerk. Viktor ging vor, ich schloss die Tür und folgte ihm. Oben konnte ich zunächst nicht viel sehen; spärliches Licht drang durch das einzige Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Viktor betätigte einen Schalter und mehrere Lampen sprangen an. Ich lehne derartige Worthülsen eigentlich ab, aber ich kann das, was sich mir eröffnete nicht anders ausdrücken als dass es mir den Atem verschlug. Der Raum war ein Atelier und mehr als das. Mein Blick verlor sich zwischen Leinwänden, Bücherstapeln und Collagen aus schwarz-weißen Fotos sowie vergilbten Polaroids, die an den Wänden aufgehängt waren. Die meisten Leinwände waren bemalt und bildeten in kräftigen Farben, meist verschiedenen Braun und Rottönen, Menschen oder menschenähnliche Figuren in verschiedenen Konstellationen und Posituren ab. Die Farben waren mit hektischen Pinselstrichen aufgetragen, als ob dem Maler nur wenig Zeit geblieben war, um einen bestimmten Moment oder ein bestimmtes Gefühl einzufangen. Ich musste an die beiden Bilder in Viktors Wohnung denken. Die Luft war etwas stickig und roch nach Ölfarbe und Holz, jedoch nicht unangenehm. Viktor sah, dass ich überwältigt war und lächelte. „Das hier behältst Du schön für dich, Kleiner. Komm.“, sagte er. Das Ding war vollgepackt bis oben hin. Ein kleiner Durchgang zog sich im Zick-Zack an Holzschnitzereien dicker Frauen mit großen Brüsten, die ich aus Dokus über afrikanische Kunst kannte, vorbei ans hintere Ende des Raums. Um einen niedrigen Holztisch waren dort drei oder vier Schemel aus Ziegenleder angeordnet, neben denen ein riesiger, in Holz geschnitzter Penis in die Höhe ragte. Viktor gab mir durch einen Wink mit der Prothese zu verstehen, dass ich mich setzen sollte. Ich setzte mich neben den Penis, was mir ein leicht verstörendes Gefühl gab. Viktor verschwand hinter einem kleinen Vorhang und kam zurück mit einer Flasche Rotwein und einer kleinen grünen Kerze, die er auf den Tisch stellte und anzündete. Sofort verbreitete sich ein süßlicher Duft. Ich zog eine Zigarette aus meiner Brusttasche, steckte sie in den Mundwinkel, schloss die Augen und atmete tief ein. Für einen kurzen Augenblick tauchten vor meinem inneren Auge tausende Visionen von den seltsamsten Orten und Menschen auf, ewigen Geschichten von Wüste und Regen, Mut und Verzweiflung, Kampf und Liedern. Ich hatte darüber gelesen, dass nur Düfte und Musik die Macht hatten, das Bewusstsein des Menschen derart auf Reisen zu schicken, doch so intensiv hatte ich es lange nicht mehr verspürt. Ich öffnete wieder die Augen und kaute auf meiner Zigarette. Viktor hatte uns eingeschenkt und saß mir gegenüber. Ich nahm mein Glas und nahm einen großen Schluck. „Wer bist du? Du hast das alles hier gemacht, oder? Du bist kein scheiss Zuhälter.“, sagte ich. Er blinzelte verstört, aber lachte dann laut. „Und du kein Clown, also stell nicht so dumme Fragen. Und mach deinen Wein leer.“ „Ich hab nen riesen Schädel, man.“ „Jetzt trink! Wir brauchen die richtige Stimmung.“ Ich wollte etwas erwidern, aber entschied mich dann doch, das Glas leer zu machen. Er schenkte nach. „Trink.“ „Aber…“ „TRINK!“ Ich gehorchte und kippte das komplette Glas runter. Mir wurde schwindelig. Viktor stand auf, doch ich konnte für einige Momente nur verzerrte Umrisse erkennen. Auf einmal war er mit dem Gesicht ganz nah an meinem, so dass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. Ich schnappte kurz nach Luft, als er mir plötzlich seine Lippen aufdrückte und mir die Zunge in den Hals schob. Es ging alles so schnell, dass ich keine Chance hatte, mich wegzudrehen. Ich riss die Augen auf, packte ihn an den Schultern und stieß ihn nach hinten. Viktor fiel über den Tisch und riss mit seiner Prothese eines seiner Gemälde mit, welches ihn unter sich begrub. Ich war vor Schreck aufgesprungen und hielt meine Arme, aufs Höchste angespannt, vor mich. Viktor bewegte sich nicht, und als ich gerade dabei war, mir Sorgen zu machen, hörte ich unter der Leinwand sein unverkennbares Lachen. Er schob sie zur Seite und richtete sich auf. „Komm hilf mir.“, meinte er und streckte mir seinen gesunden Arm entgegen. „Was zum Teufel war das eben?“, brüllte ich. „Ein Test, Vincent. Nur ein Test. Mach schon. Ich sag dir was du wissen willst.“ Er sah mich auffordernd an. Ich war ziemlich wütend und kurz davor, ihn einfach liegen zu lassen und abzuhauen. Dann aber ließ ich die Arme sinken, griff ihn am Unterarm und zog ihn auf die Beine. Viktor klopfte sich den Staub vom Hemd und fummelte an seiner Prothese herum. „Also, lass hören.“, sagte ich. „Du willst wissen was mit Christian, Miriam und ihrem Jungen passiert ist, richtig? Also gut. Setzen wir uns.“ Wir gingen zu der Sitzgruppe zurück. Er hielt mir eine Zigarre hin. Es lag ihm wohl viel daran, dass ich seinen Worten folgen konnte, denn er sprach klar und langsam. „Christian war ein guter Mann. Ich mochte ihn gleich. Er hatte was in den Augen, verstehst du? Wie manche Hunde oder so. Etwas nervös, aber auf der anderen Seite auch neugierig und aufmerksam.“ „Solange er nicht in die Wohnung gemacht hat...“ Viktor ignorierte meinen erbärmlichen Versuch, lustig zu sein. „Miriam erschien mir zunächst ziemlich schüchtern, aber ich merkte bald, dass sie ganz klar das Sagen hatte. Sie stritten häufig, aber eigentlich hörte man nur sie rumbrüllen. Die muss ihn ganz schön rund gemacht haben da oben bei dir. Ein richtig hysterisches Biest. Die Leute fingen schnell an zu reden, kannst dir vorstellen. Christian erzählte mir später mal, dass sie irgendein Psychoproblem hatte und regelmäßig Tabletten nehmen musste. Naja, ich ließ mir nichts anmerken. Zu mir war sie ja auch immer freundlich.“ „Habt ihr euch oft getroffen?“ „Oh ja, Abendessen und so was. Ich hab nicht viel mit anderen Leuten zu tun, aber Christian war richtig fasziniert von meinen blöden Geschichten. Hat mir geschmeichelt. Er arbeitete in einer kleinen Malerfirma, mieser Job, und war auch nie viel herumgekommen. Also hörte er mir einfach nur zu und starrte mich dabei an wie ein Kind, dem man das erste Mal vom Weihnachtsmann erzählt. Er hatte ein feines Gespür, saugte alles auf und wurde richtig aufgeregt.“ „Und Miriam?“ „Die schleppte er immer mit, weiß der Teufel warum. Nach einer Weile fing sie immer an, sich zu langweilen und verdrehte genervt die Augen. Christian ignorierte das komplett. Aber ich bin sensibel für so was. Hab dann meistens den Abend beendet, bevor es blöd für alle wurde. Denn Tabletten hin oder her: Nicht selten hat sie da oben irgendetwas durch die Gegend geschmissen. Auch mitten in der Nacht. Das muss man nicht noch provozieren. „Ich hab da auch einige Gläser zerlegt.“, gab ich zu. „So richtig stubenrein bist du dann aber auch nicht.“. Er zwinkerte mir zu. „Als sie mal im Bad war und ich mit Christian allein da saß, sprach ich ihn darauf an, auf die Streitereien meine ich. Die Schwangerschaft, sagte er und winkte ab. Ich beließ es dabei.“ Viktor schenkte uns den Rest der Flasche ein. Eine fette, kleine Spinne kam einen Meter neben Viktors Fuß hervorgekrochen und starrte mich an. Ich legte einen bösen Blick auf und trank einen Schluck. Sie bekam wohl Angst und verschwand wieder. „Dann kam ihr kleiner Felix zur Welt. Sie zeigten ihn mir. Wie dem Vater aus dem Gesicht geschnitten. Und die beiden strahlten nur so vor Glück. Ich sah Miriam das erste Mal richtig herzhaft lachen. Es war schön. Aber damit änderte sich alles.“ „Was meinst Du?“ „Naja, unser ganzes Verhältnis zueinander. Christian kam immer öfter allein zu mir, und Miriam blieb beim Kleinen. Die Abende wurden immer länger, oft auch unter der Woche. Wenn er dann hochging, gabs wieder Zoff, aber er schien sich damit arrangiert zu haben. Keine Ahnung. Wir tranken und redeten und redeten. Er stellte die verrücktesten Fragen...“ „Zum Beispiel?“ „Zum Beispiel? Ok, warte.“, er dachte nach und zog an der Zigarre. „Wie du hier siehst schätze ich die afrikanische Kunst. Sie ist direkt und archaisch. Nah an der Natur des Menschen und, naja, an der Natur selbst. Gleichzeitig stets von Mystik durchzogen. Christian fragte irgendwann mal, warum ich dann nicht nur mit Dreck und Blut malte. Ganz guter Punkt, oder?“. Viktor grinste. „Hmm…Schätze schon.“ „Seine Naivität, die jedoch nicht Dummheit war, inspirierte mich. Ich genoss es, und er auch. Weißt du, Malen war für ihn immer nur ein Handwerk gewesen, eine lästige Sache um Geld zu verdienen. Malerei als Ausdruckform, als Kunst, das machte ihn fertig. Er wollte alles wissen. Es war grandios, seine Entwicklung zu beobachten. Wie ein Vater. Ich war nie Vater gewesen.“ „Bis er selbst malen wollte?“, fragte ich. „Genau.“ „Und dann hast du ihn hierhergebracht.“ „Genau.“ Er wurde still und fing an, in seiner Jacke herumzukramen und zog schließlich ein kleines weißes Briefchen und eine EC-Karte hervor. „Yoga, he?“, sagte ich. „Hast du Lust?“ „Ne laß mal. Ich bleib bei meinem Wein.“ Viktor hielt das Päckchen mit seiner Prothese fest, kratzte mit der anderen Hand behutsam das Pulver heraus und schob es zu eine schönen Linie zusammen. Ich zog mir eine weitere Zigarette aus der Brusttasche und steckte sie an, während ich zusah, wie er sich die Line ins Hirn zog. Soviel zu deiner Stamina, alter Mann, dachte ich mir. Er klappte die Augenlider herunter und ließ den Kopf in den Nacken fallen. „Was ist eigentlich mit deinem Arm passiert?“, versuchte ich das Gespräch wieder aufzunehmen. Er öffnete die Augen und schaute auf die Prothese, die auf seinem Oberschenkel lag. „Die afrikanische Seele hat ihn geschluckt. Spielt keine Rolle, er ist ab. Ich brauch ihn nicht.“ „Ok, nichts für ungut. Erzähl weiter.“ „Also. Ich zeigte Christian die ganzen Techniken und all den Kram. Er war gut, verdammt gut. Das überraschte mich sogar ein bisschen. Sein erstes Bild war eine Landschaft mit blauen Bäumen und Büschen, die in einen roten Himmel ragten. Vom Thema nichts besonderes, aber sehr fein gezeichnet. Er nahm es mit nach Hause, um es Miriam zu zeigen.“ „Hat sich bestimmt gefreut, oder?“ „Ich habe sie ein paar Tage später im Hausflur getroffen. Sie grüßte mich nicht mal. Da merkte ich, dass etwas nicht stimmte.“ „Was hat Christian dazu gesagt?“ „“Miriam hat keine Ahnung.“, sagte er. Er war enttäuscht.“ „Aber was hatte das mit dir zu tun?“ „Ich habe dir erzählt, dass ich sensibel für so was bin. Ich habe viel über die Situation auf dem Flur nachgedacht. Miriam merkte, dass sie Christian verlor, denke ich. Und sie gab mir die Schuld dafür. Ich fragte ihn beim nächsten Mal, ob bei ihm alles in Ordnung sei, mit der Familie und so. Da wurde er wütend, ich habe ihn noch nie so gesehen vorher. Ich solle mich nicht einmischen, meinte er. Ich wusste nicht was ich machen sollte. Also ging es so weiter wie vorher.“. „Und du konntest ihn auch nicht abweisen.“ „Ich dachte, das wird schon wieder. Eines Tages saßen wir genau hier am Tisch, als er fragte, ob er mich malen dürfte. Als Übung, sagte er. Ich hatte nichts dagegen, also bespannte ich ihm einen Rahmen mit frischer Leinwand und stellte ich mich ins Licht.“ Er machte eine kurze Pause. „Hast du eigentlich die Tür unten zugemacht?“, fragte er mich. Ich nickte. „Gut, ich bin manchmal ein bisschen paranoid. Also, wo war ich?“ „Er hat dich gemalt.“ „Ja. Er legte sich voll ins Zeug. Er war so konzentriert dabei, dass er Schweißperlen auf der Stirn bekam. Ich war nur dagestanden, schaute ihm ins Gesicht und hab getrunken. Es dauerte drei oder vier Stunden, dann war er fertig. Ich ging zu ihm und schaute es mir an. Ich spürte seine Blicke auf mir, er war richtig nervös.“ „Und?“ „Es war unglaublich. Er hatte die Farben richtig eingesetzt und meine Gesichtszüge wirkten so real. Ich sah besser aus als in Realität. Wie ein großer Staatsmann oder so. Ich stand eine Weile vor dem Bild und schaute es mir an. Dann sagte ich ihm, dass ich stolz auf ihn bin. Christian lächelte, tja, und dann küsste er mich.“ „Scheiße.“, sagte ich. Viktor schwieg und atmete tief ein. „Er hatte sich in dich verliebt…“. Viktor nickte und zog von seiner Zigarre. „Ich habe ihn vor Schreck weggestoßen, so wie du mich vorhin. Er fiel hin und sah mich nur traurig an. Ich konnte auch nichts sagen, verstehst du? Auf einmal machte alles einen Sinn. Ich stand nur da und schaute ihm zu, wie er aufstand, seine Sachen packte und ging. So dumm und unnütz wie der Pimmel da.“ Ich suchte Viktors Blick, aber er starrte an mir vorbei, als suchte er irgendetwas in der Ferne. Er kratzte sich an der Backe. Seine Stimme wurde ganz leise und brüchig, als er weiter sprach. „Ich wusste nicht, dass ich eine derartige Macht auf Menschen habe. Ich und meine bescheuerten Geschichten. Ob man sich an die Spielregeln hält oder nicht, man macht immer etwas kaputt. Oder jemanden. Was schwerwiegender war als der Verlust meines Armes war der Verlust meiner Menschenkenntnis. Ich war so blind, ich hätte es merken müssen. Ich muss mich entschuldigen für die Aktion vorhin, aber verstehst du, ich mag dich und wollte nicht, dass sich der ganze Scheiß wiederholt. Ich kann meinen Instinkten nicht mehr trauen. Scheiße.“ „Schon gut, Viktor.“. Ich bekam ein beklemmendes Gefühl, ihn so zu sehen und es tat mir leid, aus reiner Neugier diese alten Wunden wieder aufgerissen zu haben. Aber andererseits waren wir jetzt schon mittendrin und es gab kein Zurück. „Was ist dann passiert?“, fragte ich zögerlich. Er stand auf und ging hinter den Vorhang. Ich hörte, wie er eine Schublade oder so was öffnete. Dann kam er zurück und streckte mir einen Zeitungsausschnitt hin. „Da lies.“. Er setzte sich wieder. Es war ein kleinerer, ausgeschnittener Artikel aus der Speyrer Morgenpost, nicht mehr als ein paar Zeilen. Die Überschrift versetzte mir einen Stich. „Mutter tötet eigenes Baby.“ Bevor ich ihn komplett lesen konnte, richtete Viktor das Wort an mich. „Sie hat ihn umgebracht. Genau in dieser Nacht, als das alles passierte.“ „Sie hat ihren eigenen Sohn getötet?! Warum?“ „Ich weiß nicht, ob Christian nach Hause gegangen war und ihr vielleicht alles gebeichtet hat oder einfach verschwand. Gesehen hab ich ihn jedenfalls seitdem nicht mehr. Keine Ahnung ob er überhaupt noch lebt.“ „Viktor, …“ „…halt einfach die Klappe und hör zu. Miriam hat Felix so sehr geschüttelt, dass er sich das Genick gebrochen hat. Bei Babies geht das leicht. Ihre Nackenmuskulatur ist noch nicht richtig ausgebildet. Die Nachbarn meinten, sie hätten ihn bis in die Nacht hinein schreien gehört und allerhand anderen Krach, als ob die komplette Wohnung verwüstet wird. Irgendjemand hat dann die Polizei gerufen. Als die kamen, war Felix tot und Miriam lag mit aufgeschnittenen Pulsschlagadern daneben. Ich weiß nicht was genau passiert ist. Es hat lange gedauert, bis ich wieder schlafen konnte, weiß Gott. Die Träume, die ich dann hatte, waren schrecklich. Ich träumte wie Miriam mit Felix im Arm auf dem Boden ihrer Wohnung saß wie in einem Gefängnis und an ihren Tränen fast erstickte, machtlos und verzweifelt, weil sie ihre kleine Familie zerbrechen sah. Und der Kleine hörte und hört nicht auf zu schreien.“ Er hatte feuchte Augen und wischte sie mit seiner gesunden Hand weg. „Viktor, du bist nicht Schuld, das weißt du.“ „Was weiß ich…“ „Miriam hat aber überlebt.“ „Ja, hat sie. Sie haben sie in die Geschlossene gesteckt. In gewisser Weise aber ist sie tot. Ich habe nach einigen Wochen den Mut beisammen gehabt, sie zu besuchen, aber sie starrte mich nur mit leblosen Augen an. Nicht ansprechbar.“ „Aber ich habe sie heute Morgen gesehen. An unserer Haustür. Sie hat einen weiteren Brief eingeworfen. Er war nicht einmal beschrieben.“ „Vielleicht haben sie sie entlassen. Das ändert nichts. Wirf die Briefe weg und vergiss die Sache. Es wird irgendwann aufhören.“ „Was soll das bedeuten?“, fragte ich ihn. Er lächelte traurig. „Thats it. Ich hab dir alles erzählt. Jetzt lass mich bitte allein, ich muss arbeiten.“ Ich nickte ihm zu und erhob mich. Als ich die Treppe hinunterging, sah ich noch einmal zu ihm nach hinten. Er saß noch am Tisch, hantierte mit einem Geldschein und schien sich gar nicht mehr um mich zu kümmern. Auf dem Nachhauseweg spielte ich noch einmal die ganze Geschichte in Gedanken durch. Was Menschen sich überall auf der Welt einander antun, sich unwiderruflich zerstören, ob sie wollen oder nicht, statt sich einfach nur glücklich zu machen. Warum ist das so verdammt schwer? Ich fühlte Mitleid, doch nicht nur mit Miriam, Christian oder Felix oder Viktor. Es war eine tief empfundene, allumfassende Traurigkeit. Ich konnte verstehen, warum viele einen Gott brauchen oder eine Katze, die sie das ganze Ausweglosigkeit vergessen lässt. Der Feldweg roch nach Kuhschiss und die Sterne blickten zu mir herunter und waren nur Gespenster. Tote Erinnerungen, die das Dunkel perforierten. Wo sind die Lorcas und Blakes, wenn man sie brauchte? Ich kam zu dem Entschluss, dass es das Beste wäre, mir an der Tanke noch eine Flasche Whiskey mitzunehmen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich schmiss den PC an und nutzte die Zeit, in der er hochfuhr für einen ausgiebigen Schiss. Ich wischte mich ab, nahm die drei Briefe von Miriam und warf sie in den Mülleimer. Dann setzte ich mich vor den Monitor, rief meine Detektivstory auf und goss mir ein Glas Whiskey ein. Es war der billigste, den ich gefunden hatte. Irgendein Captain Morgain Imitat mit einem Typ mit Augenklappe und verrückt verdrehtem Lockenkopf auf dem Etikett; der mit Abstand schwulste Pirat, den ich je gesehen hab. Er schmeckte scheußlich, aber vertrieb ein wenig die Kopfschmerzen. Ich tippte eine Seite und dann noch eine; es ging mir trotz meiner allgemeinen Verfassung ganz gut von der Hand. Als ich nachschenkte, fiel mein Blick zufällig wieder auf die Wand mit den Blut- und Weinflecken. Ich nahm einen tiefen Schluck und dachte an Viktor, wie er vielleicht in diesem Moment auf Koks durch sein Atelier flitzt und irgendwelche Weisheiten auf die Leinwand pinselt und dabei lacht oder weint oder was weiß ich. Ich las mir die letzten Sätze meiner Story noch einmal durch. Dann drückte dann die Delete-Taste. Ich hielt sie gedrückt bis das Dokument blitzeweiß war. Die leere Seite war ein erhebender Anblick. Ich speicherte ab, ging in die Küche und fischte Miriams Briefe wieder aus dem Mülleimer. Ich las die ersten beiden noch einmal, dann betrachtete ich mir den letzten, leeren Brief. Nach dem heutigen Abend kam er mir vor wie ein letzter Hilferuf oder so was in die Richtung. Ich nahm ich einen Kuli und fing an zu schreiben. „Miriam. Es ist alles in Ordnung. Dein Meer ist wunderschön, ich sehe es auch. Lass uns vergessen. Ich liebe Dich.“ Ich steckte den Briefbogen in einen der gelben Umschläge und ging die Treppen runter zur Haustür. Es war noch dunkel und die Straßen waren menschenleer. Eine beruhigende Stille lag über allem. In wenigen Stunden würden die Pflaster jedoch wieder voller Männer und Frauen und Kindern sein, die wie aufgestachelte Ameisen ihrer Liebe oder ihrem Hass oder ihren unfertigen Plänen und Geschichten hinterher hecheln. Ich steckte den Umschlag in den Briefkasten, so dass er noch zur Hälfte herausragte, dann ging ich wieder hoch. Ich nahm das Telefon von der Leitung und legte mich ins Bett. „Scheiß auf Farenthworth“, murmelte ich leise, drehte mich auf die Seite und machte die Augen zu.

So what, S.?

Soweit stehts also um mein Selbstbewußtsein als Künstler.
Traum...
ich habe etwas farbenprächtiges, saftiges
an allen Ecken und Enden funkelndes abgeliefert
ich schuf einen Film hierüber
an jeder Straßenecke überschlug man sich
Thema...
Mischung aus Pippi Langstrumpf und Kopfläusen.
...
war kurz davor, es meinen Eltern zu zeigen
stand schon am Essenstisch
mein Vater schmatze genüßlich Pflaumen
plötzlich schämte ich mich
lies das Manuskript verschwinden
zückte stattdessen
mein riesiges Glied
(hey, immerhin ein Traum)
hielt es bedrohlich in der Hand
und fing an zu wichsen.

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Die Blutsäufer

Die Blutsäufer (2011)


Wir müssen jetzt ganz leise sein

Nervöse Phrasen

An den eigenen Anrufbeantworter

Gebete an den Teufel

Geistesblitze aus den Bars und Gassen

Die Blutsäufer leben unerkannt

Die meiste Zeit zumindest

Zerrissen, die Seele

Spritzt an die Wände

Bis nichts mehr übrig bleibt

Außer den Fetzen an unseren Mäulern

Wir lecken uns die bebenden Lippen

Und die Nacht umschlingt uns

Wie eine verloren gegangene Mutter

Deren graue, borstige Strähnen

Uns übers Gesicht fallen

Und alles wird langsam

Alles wird Schweigen.

Montag, 12. Dezember 2011

Kettenhund

Kettenhund
Eddie war nicht der hellste, weiß Gott.
Mehr als einmal dachte ich,
es wäre das Beste, wenn ihn einfach jemand erschießen würde.
Das ginge schnell, wenn man richtig zielt
und man würde ihm das ganze Gelächter ersparen
und die verbissenen Tränen zuhause,
die er in seine ausgewaschenen Fleece-Pullis weinte.
Doch wer weiß,
vielleicht bastelte er im Stillen selbst an ner Bombe
oder ner riesigen Mausefalle
und das Problem hätte sich von alleine erledigt.
Die Wahrheit ist, dass ich ihn eigentlich mochte,
aber wir waren Kinder,
und mit seiner dicken Hornbrille,
den O-Beinen und diesen miesen knallbunten Pullis,
die seine Mutter ihm jeden Morgen überstülpte…
Naja, so was ist schwierig.

Mein bester Freund damals war Alexei,
Bulgare,
nach eigener Aussage Zigeuner,
mit einem nervösem Zucken im Gesicht,
das einem immer etwas mehr auffiel,
wenn er gerade von seinem Vater verprügelt worden war.
Er hatte sich auf Eddie eingeschossen.
„Komm wir ziehen ihm die Haut ab!“,
sagte er immer,
wie die Indianer in den Western,
die wir uns immer zusammen ansahen.
Aber wann immer man Eddie überhaupt mal auf der Straße sah
hatte er diesen Köter dabei.
Einen Kettenhund,
der ihn zwei- bis dreimal die Woche
durch das Dorf hinter sich herzog.
Ein furchterregendes Vieh,
zitternde Muskeln unter kurzem braunem Fell,
sabbernd und mit einem irren Blick,
so dass sich selbst Alexei auf Abstand hielt.
Wir nannten ihn Killer…
„Wenn mir dieser Spast nur einmal ohne dieses Monster übern Weg läuft,…
ich mach ihn fertig!“.
Ich verstand nicht, was Alexei an ihm gefressen hatte,
aber er war mein einziger Freund
also waren die Fronten geklärt.

Wir hatten den ersten Tag Sommerferien
und ich war unterwegs zum Baggersee,
um mich mit Alexei zum Baden zu treffen.
Er kam zu spät und sah schrecklich aus.
Sein T-Shirt war blutverschmiert
und unter seinem Ärmel war ein Verband zu sehen.
„Jetzt ist er dran.“, sagte er.
Sein Gesicht hörte nicht mehr auf zu zucken,
er starrte aufs Wasser und grinste seltsam.

Auf dem Nachhauseweg kam mir Eddie entgegen.
Ohne Hund.
Er starte beim Laufen unentwegt auf seine Schuhe
und nahm mich zuerst gar nicht wahr.
Ich stellte mich ihm in den Weg.
„Er macht dich alle, nur dass du Bescheid weißt.“
„Dann soll er diesmal besser zielen. Bronco wollte
mich nur beschützen.
Mit Steinen hat er uns beworfen.
Ich hab vor lauter Schreck die Leine fallengelassen.“
„Was?“
„Alexei‘s Vater war bei uns zuhause.
Morgen machen sie ihn tot.“
Er schluchzte und trottete weiter.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen,
eine seltsame Unruhe lag über mir.
Ich ging ans Fenster, schob es auf und schaute mir die Sterne an.
Vollmond.
Etwas stimmte nicht.
Ich zog mich wieder an und schlich mich aus dem Haus.

Das alte Backsteinhaus,
von dem der Putz abbröckelte,
verdeckte fast zu Gänze den Mond.
Auf dem Hof hielten sie ihn in einem rostigen Käfig.
Killer schlief.
Der vage Umriss seines Körpers bewegte sich leicht auf und ab
und nach einiger Überwindung
ging ich langsam auf ihn zu.
Mit einem Satz sprang er auf,
so dass mir das Herz in die Hose rutschte.
Doch zu meiner Überraschung bellte er nicht,
sondern schaute mich nur an.
Ich streckte in Zeitlupe die rechte Hand aus.
Sie zitterte.
Der Kerl schnupperte ein paar Mal
und fing zu an sie abzuschlecken.
Ich musste an Alexei denken und ein Ekel kroch in mir hoch.
So stand ich da,
der Hund sabberte mir die Pfote voll
und ich fragte mich, was zum Teufel ich hier eigentlich machte.
Wie fremdgesteuert griff ich mit der anderen Hand zum Riegel des Käfigs,
öffnete die Tür und ging einen Schritt zur Seite.
Der Kerl war wohl genau so überrascht wie ich.
Er machte zwei oder drei Schritte,
dann drehte er mir den Rücken zu
und verschwand im Gebüsch.

Am nächsten Tag schlief ich bis in den Mittag hinein.
Meine Mutter weckte mich kurz,
Alexei wolle mich abholen.
Ich sagte ihr, dass sie ihn wegschicken sollte und schlief weiter.
Als ich dann irgendwann aufgestanden war
und ins Wohnzimmer herunter kam,
diskutierte sie lebhaft mit meinem Vater.
Eddies Hund war eingeschläfert worden,
sagte sie. Was ein Glück. Bevor er noch jemandem zur Gefahr wird,
sagte sie. Man müsse die Kinder schützen.
Des Nachts sei er sogar noch ausgebüchst,
sagte mein Vater.
Weiß Gott was hätte passieren können.
Was ein Glück, sagte meine Mutter,
dass er von ganz allein
morgens wieder vor der Tür stand.
Der Tierarzt war schließlich auch schon da.
Seltsam nur, dass Alexei vorhin so traurig aus der Wäsche geguckt hatte.

Ich ging in mein Zimmer zurück und setzte mich aufs Bett.
Im Fernsehen kam „Der Schwarze Falke“ mit John Wayne,
einer meiner Lieblingswestern.
Ich deckte mich zu, starrte auf den Bildschirm
und versuchte für einige Minuten die Luft anzuhalten,
bis es nicht mehr ging.
An diesem Tag lernte ich etwas.