Prost Mahlzeit (2013)
In einem Gedicht eines Freundes
ist zu lesen „Liebe oder Schnaps“. Sehr passend. Mein Opa war vor einer Woche
gestorben, um mich herum spukte der Karneval und ich leistete Trauerarbeit:
„Liebe und Schnaps“ sozusagen. Wenn
man alleine zuhause sitzt und an allem zweifelt, so dass man keine Ahnung hat,
was man eigentlich als nächstes machen sollte und warum überhaupt, greift auch
folgende Formel „Langeweile oder Schnaps“. Man könnte, wenn man besonders
gewitzt sein will, zu folgendem Schluss kommen: „Liebe oder Langeweile“. Aber
dann fehlt halt wieder der Schnaps. Wie man’s dreht...
Ganz alleine war ich allerdings
nicht. Mein guter Hund Bosco, Bruder im Geiste, so wie er da seit Stunden neben
mir saß und in die Gegend starrte, wurde langsam ungeduldig, denn er musste
raus. Nicht um sich verkleidet in die Menge zu werfen, sondern aus der
primitivsten aller Motivationen: Sein großes Geschäft. Vielleicht das Geschäft
seines Lebens. Ich dachte mir, ok, alter Halunke, besser wir gehen jetzt, bevor
ich hier besoffen auf der Couch einschlafe und das war’s dann. Also zog ich ihm
seine Krawatte an, schlüpfte in meine Wanderstiefel und ab nach draußen.
Es war ein ungemütlicher kalter
Wind, trotz Sonnenschein, und wir waren bestimmt schon eine Stunde durch die
Felder am Stadtrand unterwegs, ohne dass er Anstalten gemacht hätte, sich und
mich zu erlösen. Bosco, ein mittelgroßer Boxermischling, hatte in seinem jungen
Leben bestimmt schon dreimal mehr Komplimente bekommen als ich, was er seinem
braungestromten weichen Fell, der tollpatschigen Art und nicht zuletzt dem
zutraulichen und sensiblen Blick zu verdanken hatte. Seit er bei mir und
Christina wohnte, bekam er sogar eigene Postkarten von unseren Freunden
geschickt, aus Ägypten, USA, you name it. Meinen Namen quetschten sie dann
irgendwie noch in eine Ecke. Ich gönnte es ihm.
Als wir an den kleinen Bach
kamen, blieb er plötzlich stehen und hob die Schnauze in den Wind. Ich hatte
ihn von der Leine gemacht, da uns auf diesem Weg selten jemand begegnet, vor
allem nicht einer dieser Amokfahrradfahrer. „Bosco!“, rief ich scharf, da ich
weiterwollte. Als hätte er auf dieses Kommando gewartet, preschte er los und
hetzte mit einem Affenzahn über die Felder auf ein Gebüsch los. Ich hinterher,
stinksauer und weiter seinen Namen rufend. Man muss dazu sagen, dass Bosco ein
sehr menschenverbundenes Geschöpf ist, das einem am liebsten alles Recht
machte, daher war ich überrascht, dass er nicht gehorchte. Im Gebüsch lag ein
Karnickel. Ich dachte zuerst, es wäre tot, weil seine Augen rot und geschwollen
waren, das Fell von kahlen Stellen durchsetzt und vor allem, weil es nicht
fortlief, wie man das so von Karnickeln gewohnt ist, wenn plötzlich der
Predator auftaucht. Ich zerrte Bosco, der bereits drauf und dran war, sich auf
das arme Tier zu stürzen, am Halsband zurück und machte die Leine wieder dran.
Er war ganz außer sich und zerrte mit aller Kraft dagegen. Da sah ich, dass
sich der Körper des Karnickels in wildem, verzweifeltem Atmen hob und senkte,
aber es konnte sich anscheinend nicht mehr bewegen, von einem nervösem Zucken
der Hinterläufe abgesehen. Myxomatose, vermutete ich. Ich schrie Bosco noch
einmal wütend an und zog gleichzeitig heftig an der Leine, woraufhin er
erschrak und endlich abließ. Zurück auf dem Fußweg drehte er sich aber noch
einige Male nach dem Viech um, selbst als wir schon ein ganzes Stück weiter
waren.
Nach einer Weile machte er mir
den Eindruck, als hätte er den Vorfall vergessen und ich ließ ihn wieder frei
laufen. Er hörte wieder auf jedes Kommando und forderte mich zum Spielen auf,
in dem er kleinere Äste vom Boden aufhob und zwischen die Lefzen nahm, mich mit
großen Augen ansah, dabei den Oberkörper absenkte und, sobald ich einen Schritt
nach vorne tat, an mir vorbeirannte, als ginge es um sein Leben. Quatschkopp,
dachte ich mir. Schließlich machte er auch seinen Haufen.
An der Ecke vor unserer Wohnung
war eine kleine Kneipe. Ich hatte keine Zigaretten mehr und wusste, dass es
dort einen Automaten gab. Bosco folgte geduldig an der Leine. Die Kneipe
bestand aus einer einzigen Theke, hinter der eine als Biene Maya verkleidete
Alte mit Zigarette im Mundwinkel geschäftig die 4 oder 5 Gestalten davor mit
frisch gezapften Bier versorgte. Es waren hauptsächlich Männer jenseits der 50,
aber auch eine Frau saß dabei. Die Luft war voller Zigarettenrauch und keiner
sagte ein Wort. Biene Maya war die einzige in Verkleidung, schenkte gerade
Jägermeister in einige Schnapsgläser und zog an ihrer Zigarette, ohne die Hände
zu benutzen. Die Gestalten starrten mit leeren Augen an einen Punkt jenseits
der Theke, jede an ihren eigenen. Ich stellte mich an die Seite der Bar und
wartete, bis die Alte fertig war, um mir meinen Fünfeuro-Schein zu wechseln.
Über die alten Boxen der Stereoanlage lief in übertriebener Laustärke miese
Faschingsmusik und wirklich gar nichts sah hier nach Spaß aus. Ich bekam mein
Kleingeld, ließ Bosco Sitz machen und schickte noch ein bestimmtes „Bleib!“
hinterher. Er sah sich ängstlich um und als ich die Treppen runter zur Toilette
ging, wo der Zigarettenautomat stand, stand er auf und ging mir nach. Diesmal
nahm ich es ihm nicht krumm. Ich zog mir eine Schachtel und ging mit dem
Kleinen wieder hoch. Die Schnapsgläser waren indes leer und standen nutzlos auf
der Theke. Aus dem Radio kam „Rumba Rumba Tätärä“ und mir kam es vor, als wäre
die Lautstärke noch etwas weiter hochgedreht worden, um zu verhindern, dass
irgendwer in die Verlegenheit einer Unterhaltung kam. Wir waren beide froh, als
wir wieder draußen waren.
Zurück in der Wohnung machte ich
Bosco sein Abendessen und schenkte mir den letzten Schnaps des Abends ein.
Glücklich kam er auf die Couch zurück. Ich strich ihm übers Fell und er leckte
mir den Handrücken. Mir fiel das Karnickel wieder ein. Das hatte mich schwer
beeindruckt. Er hätte es nicht gefressen, darum ging es nicht. Wahrscheinlich
war er enttäuscht, dass es nicht das alte Du-kriegst-mich-doch-eh-nicht-Spiel
mitgemacht hatte. Eigentlich ganz einfach: Du siehst einen Hasen und musst
hinterher. Die ureigenste Motivation, noch vor dem Scheissen. Lass dein
Herrchen doch schreien.
Ich stellte die Glotze an.
Karneval, zapp, Karneval, zapp, arrghhh…Berlusconi, zapp, Pretty Woman, zapp,…,
Karneval. Na großartig. Ich kippte den Schnaps runter und beschloss, ins Bad zu
gehen und mir endlich mal wieder den Kopf zu rasieren. Eine kleine kindische
Ehrdarbietung an meinen Opa, der eine Glatze hatte, seit ich denken konnte. Im
Krieg damals, als er wie viele andere armen Kerle der Großen Bestie zum Fraß
vorgeworfen wurde, hatten sie ihm angeblich den Helm mitsamt Kopfhaut
weggeschossen. Doch er hatte den ganzen Schlamassel überstanden, ohne einen
Menschen töten zu müssen. Wer weiß, ob das stimmte, aber es war eine gute
Story. Während die Haare ins Waschbecken fielen, wurde mir bewusst, dass er
eigentlich nie viel über diese Zeit oder sein restliches Leben erzählt hatte.
Kein geschwätziger Typ, sondern einer, der da war, wenn’s drauf ankam. Jeder,
der ihn kannte, wusste das zu bestätigen.
Gekämpft hatte er jedenfalls bis
zum Schluss, das hatte man gespürt. Nie hängen lassen, das war stets sein
Spruch gewesen, zumindest als er noch sprechen konnte. Und dem ist er treu
geblieben, bis er sich schließlich selbst erlaubte hatte zu gehen. Ich wurde
mir bewusst, dass ich einiges von ihm hätte lernen können, wenn ich ihn einfach
nur mal gefragt hätte. Was waren die großen Träume und Momente des Mannes
gewesen und welche Niederlagen musste er einstecken, bis er am Ende im
Krankenbett lag und meine Bewegungen mit großen Augen verfolgte. Ich hatte
keine Ahnung.
Naja, über die Frisur wusste ich
jedenfalls so einigermaßen Bescheid. Ich blickte in den Spiegel, fuhr mir über
den Kopf und schmunzelte. Vielleicht trink ich doch noch einen kleinen, dachte
ich mir. Auf die Stille, die am Ende bleibt und das hysterische Lachen der
Dummheit, das der Stille folgt. Bosco gähnte und legte den Kopf auf die
Vorderläufe. Mir tat das Karnickel leid. Diese verzweifelten Augen und das
rasende Herz. Den nächsten spielsüchtigen Hund würde er nicht überleben. Ich
entschloss mich, dem Ganzen ein Ende zu setzen und dem Viech noch größere
Leiden zu ersparen.
Zehn Minuten später stand ich
wieder vor ihm, diesmal ohne Bosco, aber mit einem großen Stein in der Hand,
den ich auf dem Weg aufgelesen hatte. Doch da war keine Bewegung mehr in dem
kleinen geschundenen Körper. Ich warf den Stein ins Gebüsch und ging wieder
nach Hause. Da ging er also hin, der Tag, ohne dass irgendjemand etwas mit ihm
anfangen konnte. Anders wie in den zahlreichen Büchern und Filmen passte die
meiste Zeit einfach nichts wirklich zusammen. Kein Witz, keine Pointe. Es war
deprimierend.
Ich setzte mich wieder auf die
Couch und las noch einmal die Todesanzeige, die ich aus der Tageszeitung
ausgeschnitten hatte. Auf dem Foto, das sie da von ihm abgedruckt hatten, hatte
er den ernsten, aber nicht grimmigen Blick, den ich von vielen anderen Bildern
kannte. Sein ehrliches, raues Lachen kam mir in Erinnerung.
„Nie hängen lassen.“, der Spruch
geisterte mir immer noch durch den Kopf. Irgendwie hatte er damit ein Zeichen
gesetzt und das nicht nur für mich. Jedes Wort und jede Tat zieht seine
mystischen Fäden und bleibt für immer verwoben mit der Welt. Ich wünschte mir,
dass dem Mann in seinem langen Leben einige Hasen über den Weg gelaufen sind
und er ein paar davon auch gekriegt hatte, auch wenn niemand mehr etwas darüber
erzählen kann. Bald schon würde Christina endlich zuhause sein und mit ihrem warmen
Lachen und ihrer Wärme die Gespenster dieses trübsinnigen Tages wieder
vertreiben. The land of the living… Vielleicht fällt mir dann auch irgendwann
noch ein weiteres Wort für Schnaps ein. Ich machte mir noch einen ins Glas.
Feierabend. Und gute Reise. Uns allen.