Montag, 11. Februar 2013

Prost Mahlzeit

Prost Mahlzeit (2013)

In einem Gedicht eines Freundes ist zu lesen „Liebe oder Schnaps“. Sehr passend. Mein Opa war vor einer Woche gestorben, um mich herum spukte der Karneval und ich leistete Trauerarbeit: „Liebe und Schnaps“ sozusagen. Wenn man alleine zuhause sitzt und an allem zweifelt, so dass man keine Ahnung hat, was man eigentlich als nächstes machen sollte und warum überhaupt, greift auch folgende Formel „Langeweile oder Schnaps“. Man könnte, wenn man besonders gewitzt sein will, zu folgendem Schluss kommen: „Liebe oder Langeweile“. Aber dann fehlt halt wieder der Schnaps. Wie man’s dreht...
Ganz alleine war ich allerdings nicht. Mein guter Hund Bosco, Bruder im Geiste, so wie er da seit Stunden neben mir saß und in die Gegend starrte, wurde langsam ungeduldig, denn er musste raus. Nicht um sich verkleidet in die Menge zu werfen, sondern aus der primitivsten aller Motivationen: Sein großes Geschäft. Vielleicht das Geschäft seines Lebens. Ich dachte mir, ok, alter Halunke, besser wir gehen jetzt, bevor ich hier besoffen auf der Couch einschlafe und das war’s dann. Also zog ich ihm seine Krawatte an, schlüpfte in meine Wanderstiefel und ab nach draußen.
Es war ein ungemütlicher kalter Wind, trotz Sonnenschein, und wir waren bestimmt schon eine Stunde durch die Felder am Stadtrand unterwegs, ohne dass er Anstalten gemacht hätte, sich und mich zu erlösen. Bosco, ein mittelgroßer Boxermischling, hatte in seinem jungen Leben bestimmt schon dreimal mehr Komplimente bekommen als ich, was er seinem braungestromten weichen Fell, der tollpatschigen Art und nicht zuletzt dem zutraulichen und sensiblen Blick zu verdanken hatte. Seit er bei mir und Christina wohnte, bekam er sogar eigene Postkarten von unseren Freunden geschickt, aus Ägypten, USA, you name it. Meinen Namen quetschten sie dann irgendwie noch in eine Ecke. Ich gönnte es ihm.
Als wir an den kleinen Bach kamen, blieb er plötzlich stehen und hob die Schnauze in den Wind. Ich hatte ihn von der Leine gemacht, da uns auf diesem Weg selten jemand begegnet, vor allem nicht einer dieser Amokfahrradfahrer. „Bosco!“, rief ich scharf, da ich weiterwollte. Als hätte er auf dieses Kommando gewartet, preschte er los und hetzte mit einem Affenzahn über die Felder auf ein Gebüsch los. Ich hinterher, stinksauer und weiter seinen Namen rufend. Man muss dazu sagen, dass Bosco ein sehr menschenverbundenes Geschöpf ist, das einem am liebsten alles Recht machte, daher war ich überrascht, dass er nicht gehorchte. Im Gebüsch lag ein Karnickel. Ich dachte zuerst, es wäre tot, weil seine Augen rot und geschwollen waren, das Fell von kahlen Stellen durchsetzt und vor allem, weil es nicht fortlief, wie man das so von Karnickeln gewohnt ist, wenn plötzlich der Predator auftaucht. Ich zerrte Bosco, der bereits drauf und dran war, sich auf das arme Tier zu stürzen, am Halsband zurück und machte die Leine wieder dran. Er war ganz außer sich und zerrte mit aller Kraft dagegen. Da sah ich, dass sich der Körper des Karnickels in wildem, verzweifeltem Atmen hob und senkte, aber es konnte sich anscheinend nicht mehr bewegen, von einem nervösem Zucken der Hinterläufe abgesehen. Myxomatose, vermutete ich. Ich schrie Bosco noch einmal wütend an und zog gleichzeitig heftig an der Leine, woraufhin er erschrak und endlich abließ. Zurück auf dem Fußweg drehte er sich aber noch einige Male nach dem Viech um, selbst als wir schon ein ganzes Stück weiter waren.

Nach einer Weile machte er mir den Eindruck, als hätte er den Vorfall vergessen und ich ließ ihn wieder frei laufen. Er hörte wieder auf jedes Kommando und forderte mich zum Spielen auf, in dem er kleinere Äste vom Boden aufhob und zwischen die Lefzen nahm, mich mit großen Augen ansah, dabei den Oberkörper absenkte und, sobald ich einen Schritt nach vorne tat, an mir vorbeirannte, als ginge es um sein Leben. Quatschkopp, dachte ich mir. Schließlich machte er auch seinen Haufen.

An der Ecke vor unserer Wohnung war eine kleine Kneipe. Ich hatte keine Zigaretten mehr und wusste, dass es dort einen Automaten gab. Bosco folgte geduldig an der Leine. Die Kneipe bestand aus einer einzigen Theke, hinter der eine als Biene Maya verkleidete Alte mit Zigarette im Mundwinkel geschäftig die 4 oder 5 Gestalten davor mit frisch gezapften Bier versorgte. Es waren hauptsächlich Männer jenseits der 50, aber auch eine Frau saß dabei. Die Luft war voller Zigarettenrauch und keiner sagte ein Wort. Biene Maya war die einzige in Verkleidung, schenkte gerade Jägermeister in einige Schnapsgläser und zog an ihrer Zigarette, ohne die Hände zu benutzen. Die Gestalten starrten mit leeren Augen an einen Punkt jenseits der Theke, jede an ihren eigenen. Ich stellte mich an die Seite der Bar und wartete, bis die Alte fertig war, um mir meinen Fünfeuro-Schein zu wechseln. Über die alten Boxen der Stereoanlage lief in übertriebener Laustärke miese Faschingsmusik und wirklich gar nichts sah hier nach Spaß aus. Ich bekam mein Kleingeld, ließ Bosco Sitz machen und schickte noch ein bestimmtes „Bleib!“ hinterher. Er sah sich ängstlich um und als ich die Treppen runter zur Toilette ging, wo der Zigarettenautomat stand, stand er auf und ging mir nach. Diesmal nahm ich es ihm nicht krumm. Ich zog mir eine Schachtel und ging mit dem Kleinen wieder hoch. Die Schnapsgläser waren indes leer und standen nutzlos auf der Theke. Aus dem Radio kam „Rumba Rumba Tätärä“ und mir kam es vor, als wäre die Lautstärke noch etwas weiter hochgedreht worden, um zu verhindern, dass irgendwer in die Verlegenheit einer Unterhaltung kam. Wir waren beide froh, als wir wieder draußen waren.

Zurück in der Wohnung machte ich Bosco sein Abendessen und schenkte mir den letzten Schnaps des Abends ein. Glücklich kam er auf die Couch zurück. Ich strich ihm übers Fell und er leckte mir den Handrücken. Mir fiel das Karnickel wieder ein. Das hatte mich schwer beeindruckt. Er hätte es nicht gefressen, darum ging es nicht. Wahrscheinlich war er enttäuscht, dass es nicht das alte Du-kriegst-mich-doch-eh-nicht-Spiel mitgemacht hatte. Eigentlich ganz einfach: Du siehst einen Hasen und musst hinterher. Die ureigenste Motivation, noch vor dem Scheissen. Lass dein Herrchen doch schreien.
Ich stellte die Glotze an. Karneval, zapp, Karneval, zapp, arrghhh…Berlusconi, zapp, Pretty Woman, zapp,…, Karneval. Na großartig. Ich kippte den Schnaps runter und beschloss, ins Bad zu gehen und mir endlich mal wieder den Kopf zu rasieren. Eine kleine kindische Ehrdarbietung an meinen Opa, der eine Glatze hatte, seit ich denken konnte. Im Krieg damals, als er wie viele andere armen Kerle der Großen Bestie zum Fraß vorgeworfen wurde, hatten sie ihm angeblich den Helm mitsamt Kopfhaut weggeschossen. Doch er hatte den ganzen Schlamassel überstanden, ohne einen Menschen töten zu müssen. Wer weiß, ob das stimmte, aber es war eine gute Story. Während die Haare ins Waschbecken fielen, wurde mir bewusst, dass er eigentlich nie viel über diese Zeit oder sein restliches Leben erzählt hatte. Kein geschwätziger Typ, sondern einer, der da war, wenn’s drauf ankam. Jeder, der ihn kannte, wusste das zu bestätigen.
Gekämpft hatte er jedenfalls bis zum Schluss, das hatte man gespürt. Nie hängen lassen, das war stets sein Spruch gewesen, zumindest als er noch sprechen konnte. Und dem ist er treu geblieben, bis er sich schließlich selbst erlaubte hatte zu gehen. Ich wurde mir bewusst, dass ich einiges von ihm hätte lernen können, wenn ich ihn einfach nur mal gefragt hätte. Was waren die großen Träume und Momente des Mannes gewesen und welche Niederlagen musste er einstecken, bis er am Ende im Krankenbett lag und meine Bewegungen mit großen Augen verfolgte. Ich hatte keine Ahnung.
Naja, über die Frisur wusste ich jedenfalls so einigermaßen Bescheid. Ich blickte in den Spiegel, fuhr mir über den Kopf und schmunzelte. Vielleicht trink ich doch noch einen kleinen, dachte ich mir. Auf die Stille, die am Ende bleibt und das hysterische Lachen der Dummheit, das der Stille folgt. Bosco gähnte und legte den Kopf auf die Vorderläufe. Mir tat das Karnickel leid. Diese verzweifelten Augen und das rasende Herz. Den nächsten spielsüchtigen Hund würde er nicht überleben. Ich entschloss mich, dem Ganzen ein Ende zu setzen und dem Viech noch größere Leiden zu ersparen.
Zehn Minuten später stand ich wieder vor ihm, diesmal ohne Bosco, aber mit einem großen Stein in der Hand, den ich auf dem Weg aufgelesen hatte. Doch da war keine Bewegung mehr in dem kleinen geschundenen Körper. Ich warf den Stein ins Gebüsch und ging wieder nach Hause. Da ging er also hin, der Tag, ohne dass irgendjemand etwas mit ihm anfangen konnte. Anders wie in den zahlreichen Büchern und Filmen passte die meiste Zeit einfach nichts wirklich zusammen. Kein Witz, keine Pointe. Es war deprimierend.
Ich setzte mich wieder auf die Couch und las noch einmal die Todesanzeige, die ich aus der Tageszeitung ausgeschnitten hatte. Auf dem Foto, das sie da von ihm abgedruckt hatten, hatte er den ernsten, aber nicht grimmigen Blick, den ich von vielen anderen Bildern kannte. Sein ehrliches, raues Lachen kam mir in Erinnerung.
„Nie hängen lassen.“, der Spruch geisterte mir immer noch durch den Kopf. Irgendwie hatte er damit ein Zeichen gesetzt und das nicht nur für mich. Jedes Wort und jede Tat zieht seine mystischen Fäden und bleibt für immer verwoben mit der Welt. Ich wünschte mir, dass dem Mann in seinem langen Leben einige Hasen über den Weg gelaufen sind und er ein paar davon auch gekriegt hatte, auch wenn niemand mehr etwas darüber erzählen kann. Bald schon würde Christina endlich zuhause sein und mit ihrem warmen Lachen und ihrer Wärme die Gespenster dieses trübsinnigen Tages wieder vertreiben. The land of the living… Vielleicht fällt mir dann auch irgendwann noch ein weiteres Wort für Schnaps ein. Ich machte mir noch einen ins Glas. Feierabend. Und gute Reise. Uns allen.