Frank setzte schwere Schritte auf den durchtränkten Asphalt und
obwohl es fast aufgehört hatte zu regnen, hielt er den Wettschein in
der einen Hand umschlungen, während er mit der anderen die ständig
herabrutschende Kapuze seines Mantels aus den Augen schob.
Frank hatte die letzten drei Stunden im Wettbüro verbracht, wie
den Tag zuvor und den Tag zuvor. Es müssen etwa ein Dutzend Rennen
gewesen sein, und er hatte alle verloren. Das Geld, das dann noch
blieb, war für Altbier und Ramazzotti draufgegangen, und als
wirklich keins mehr da war, ließ er eine letzte Runde anschreiben
und wartete, bis sich der Regen gelegt hatte. Der Wettschein war etwa
soviel wert wie der Mundgeruch von Maggie, und wenn er an ihre Lippen
dachte und an den ganzen Schwachsinn, den sie jede Minute ihres
Lebens von sich ließ, ballte sich seine Faust noch fester in der
Seitentasche seines Mantels zusammen. Der Name des Pferdes, auf das
der in diesem letzten Rennen gesetzt hatte, war Eberhard. Der Name
war an Blödheit nicht zu überbieten und zugleich der Name seines
Vater, der vor genau zwanzig Jahren gestorben war. 11. November, und
der kleine Frankie entdeckte ihn als erstes, am Strick hängend im
hinteren Teil seiner Werkstatt. Dieser feige Hurensohn. Aber nicht
einmal heute brachte ihm sein Tod Glück. Frank stellte sich vor, wie
der sich da unten im Sarg in sein stinkendes verottetes Fäustchen
lachte. Es nieselte noch ein wenig und die Lichter der hektisch
vorbeifahrenden Autos brachen sich seltsam an den Tropfen und
Schaufenstern und Pfützen. Die Gesichter, die hinter den Scheiben
kurz aufblitzten, wirkten alle müde und angespannt. Frank war auch
müde und hatte einen ordentlichen Schlag. Er torkelte ein wenig und
musste sich konzentrieren, nicht in eine der zahlreichen Pfützen zu
treten.
Seit zwei Wochen war er arbeitslos und es hatte seine guten
Seiten. Keine Plackerei unter Rückenschmerzen mehr und die
ungewaschenen Hackfressen seiner Kollegen musste er auch nicht mehr
ertragen. Kein Mr Suhutzu und Mr Schmidt, denn man sprach nur noch
englisch in der alten Gießerei. „We are one big family“ wurde
ihnen vor der Übernahme gesagt. Dann wurde aussortiert. Frank stand
ziemlich schnell auf der Abschussliste, weil er sich nichts gefallen
ließ, vor allem nicht von dahergelaufenen Fidschis, die halb so alt
waren wie er. Ja, er war eigentlich ganz froh, den Laden los zu sein.
Nach ein paar Tagen zeigten sich jedoch auch die Schattenseiten.
Maggie. Warum sollte man nach jahrelanger harter Arbeit nicht mal
ausschlafen können? Ein Mann muss sich doch besaufen können, ohne
sich ständig zu rechtfertigen. „Nicht vor der Kleinen!“...heulte
sie immer gleich. Sollte er jetzt auch noch ihre scheiss Blumen
giessen? Was ein Weib. In diesen Momenten konnte er sogar seinen
Vater verstehen, das alte Arschloch. Da muss man hart durchgreifen,
sonst wird man immer kleiner und kleiner und irgendwann machen sie
alles mit dir was sie wollen. Nach etwa einer Woche hatte er sich
entschieden, ihr etwas von dieser neuen Stelle im Stahlwerk zu
erzählen. Dann hatte er wenigstens tagsüber seine Ruhe. Er verließ
um 6 die Wohnung und trieb sich in der Stadt rum, meist in den Bars
in Nähe des Bahnhofes, da dort das Bier nicht viel kostete und
keiner blöde Fragen stellte. Ab und zu kam es vor, dass er der
einzige Kunde war und von seinem Platz an der Theke die Züge
heranknattern hören konnte. Dann stellte er sich vor, wie es wäre,
wenn er jetzt einfach seinen Mantel schnappte, zum Bahnsteig
hinüberlief und in irgendeinen einstieg. Egal wohin, es musste nur
weit weg sein, vielleicht Italien oder so. Er würde sich ne schöne
reiche Schnalle anlachen und es sich gutgehen lassen. Man sah ihm
seine fast vierzig Jahre zwar an, aber er hatte noch eine ganz gute
Figur, von den kleinen Bierbauch abgesehen, und ein gewitztes
Mundwerk. Was noch wichtiger war: Frauen mögen Männer, die sagen
wo es langgeht. Die signorina würde ihm nicht widerstehen können.
Aber Frank war ein guter Mann, und ein guter Mann lässt seine
Familie nicht im Stich. Was sollte die Rattenbande nur ohne ihn
machen?
Frank war noch etwa zwei Straßenzüge von seiner Wohnung entfernt
und schaute beim Laufen auf seine Arbeiterstiefel als er plötzlich
eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte.
„Hey!“.
Frank erschrak und schob sich die Kapuze vom Gesicht. Vor ihm
stand ein junger Kerl in Lederjacke, vielleicht 20, nicht älter.
„Hey.“, sagte der Kerl noch einmal. „Hast du ne Zigarette?“.
„Ne Zigarette?“, fragte Frank.
„Ja man, biste taub?“
„Was meinste?“
Der Kerl lachte und wechselte das Standbein. Er hatte einen
kleinen schwarzen Ziegenbart und dicke Backen. Ein sehr jungenhaftes
Gesicht, das lässig Kaugummi kaute und trotzdem etwas sehr Nervöses
an sich hatte. Vielleicht wieder einer dieser gottverdammten Junkies,
dachte sich Frank.
„Es heißt, „Haben
Sie eine Zigarette.“, korrigierte
er ihn und betonte dabei jede einzelne Silbe, wie es sein Vater
immer getan hatte, wenn er ihm zurechtgewiesen hatte. Der Kerl
grinste.
„Was guckste so unverschämt aus der Wäsche? Ich sollte dir die
Zähne aus deinem dummen Gesicht schlagen.“
„Schon gut, Alter. Schon gut.“, meinte der Kerl, hob beide
Hände und drehte sich herum.
Dieser nichtsnutzige Scheisser, wahrscheinlich noch nie richtig
gearbeitet, dachte sich Frank, während ihm der Nieselregen über das
Gesicht lief. Er beobachtete ihn wie er langsam davonschlenderte und
jede Bewegung machte ihn wütender.
Frank ballte die Faust, die immer noch den Wettschein umklammerte.
Dann machte er ein paar Schritte und schlug zu.
Der Kerl stieß einen überraschten Schrei aus, dann knallte er
mit dem Kopf an die Häuserwand und ging zu Boden. Frank schlug
weiter zu. Immer wieder, bis er sicher war, dass da kein Grinsen mehr
in dem jungen Gesicht mehr war. Der Kerl lag regungslos mit zur Seite
gekrümmten Körper auf dem Boden und Blut floss ihm aus Stirn und
Nase. Frank stand über ihm und sah sich um. Die Strasse war
menschenleer, es nieselte noch immer und das einzige Geräusch war
sein lautes Schnaufen und das stetige Rauschen der Autos der
nahegelegenen Hauptstraße. Er ging in die Knie und durchsuchte seine
Taschen. Geldbeutel, Handy, Kondome. Tja, Freundchen, die wirste wohl
nicht mehr brauchen, sagte Frank, nahm die paar Scheine aus dem
Geldbeutel und steckte sie sich in den Mantel.
Maggie war schon im Bett, als er heimkam. Durch die
Schlafzimmertür konnte er ihr Schnarchen hören. Sie schnarchte
immer, wenn sie zuviel von ihrem billigen Sekt gesoffen hatte. Frank
ging in die Küche und machte die Tür zu. Er holte sich ein Bier aus
dem Kühlschrank und trank ein paar große Schlücke, während er den
Inhalt der Manteltasche auf der Arbeitsplatte ausbreitete. 45 Euro,
der zusammengeknüllte Wettschein und eine Schachtel Pall Mall, in
der noch eine einzige Zigarette war. Hätte er die etwa diesem
verzogenen Bengel geben sollen? Wohl kaum. Er steckte sie mit der
blutigen Hand rechten Hand an, ging zum Fenster und öffnete es. Es
gab nur eine handvoll vereinzelte Lichter in den Fenstern des
Arbeiterviertels. Ein paar schlaflose arme Schweine, denn das Leben
ist selten gut zu denen, die sich bemühen. Frank holte sich den
Wettschein und rollte ihn auseinander. Eberhard. Er nahm das
Feuerzeug und zündete ihn an einer Ecke an. Während er zusah, wie
sich der Schein langsam in Asche zusammenkreuselte, dachte er nach.
Das Geld wird er morgen Maggie geben, nicht alles, denn er brauchte
ja noch etwas Budget zum Spielen, aber er war stolz auf sich. Jetzt
noch ein Fick und der Tag hatte sich gelohnt. Er trank einen letzten
großen Schluck aus der Flasche, legte seinen Mantel über den Stuhl
beim Fenster und streifte sich die Schuhe ab.
Beim Schlafzimmer der Kleinen blieb Frankie stehen und lauschte an
der Tür. Er war sicher, dass sie wach war, er spürte es. Sein Vater
hatte ihn jedes mal verprügelt, wenn er nicht nach 10 tief und fest
schlief. Was fiel ihr eigentlich ein? Hatte er es ihr nicht 1000 mal
gesagt? Er beugte sich, so dass sein Mund direkt vorm Schlüsselloch
war, schnaufte laut ein und aus und schaute währenddessen auf seine
Armbanduhr. 5 Minuten sollten reichen. Nicht zur Strafe, aber zum
Lernen. Schließlich richtige er sich auf, öffnete den Gürtel und
ging festen Schrittes zum Ende des Ganges, zu seinem Schlafzimmer, wo
Maggie lag und er Mann sein würde. Man hörte, dass draussen der
Regen wieder mit voller Wucht loslegte...doch das juckte ihn nicht
mehr.